Wurzeln der Ausgrenzung und § 175-(Vor-)Geschichte

Ralf Bogen


14. Jh.: Todesstrafe für Lustsexualität

m1
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation um 1000
(Quelle: © Sémhur / Wikimedia Commons)

In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft gehörte die heutige Region Baden-Württemberg zum “Römischen Reich“, welches später „Heiliges Römischen Reich deutscher Nation” benannt wurde. Es existierte von 962 bis zu seiner Auflösung 1806.

Bibel und Todesstrafe

Je stärker das Christentum in Europa vom ca. 6. bis 15. Jahrhundert an Einfluss gewann, desto mehr verbreitete sich die Verdammung jener Liebes- und Sexualitätsformen, die nicht innerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau praktiziert und nicht auf Fortpflanzung gerichtet waren. Dazu gehörten für die Kirche und die Fürsten neben außerehelichem Geschlechtsverkehr und Onanie insbesondere die Homosexualität, sexuelle Handlungen mit Tieren, aber auch der Geschlechtsverkehr mit andersgläubigen Frauen. Alle diese “Sünden” wurden unter dem Begriff “Sodomie” im deutschsprachigen Raum zusammengefasst und galten als “widernatürlich” und “pervers”. Denn schließlich heißt es in der “Schöpfungsgeschichte”, die sich um Adam und Eva dreht: “Seid fruchtbar und mehret euch”.

Um das Jahr 1347 breitete sich die Pest in Mitteleuropa aus und hatte auch im ersten Deutschen Reich zu einem Massensterben sowie zu einem Rückgang der Bevölkerung um nahezu ein Drittel geführt (von zwölf Millionen Einwohner im Jahr 1347 auf 8,5 Millionen in 1357). (1) Adel und Kirche sagten der nicht auf Fortpflanzung gerichteten Sexualität sowie der sexuellen Freizügigkeit, wie sie sich z. B. in einer entsprechenden Badehauskultur entwickelt hatte, den radikalen Kampf an. (2) Insbesondere wurde jetzt die in der Bibel für “Sodomiten” bestimmte Todesstrafe durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen durchgeführt (“Wenn ein Mann bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben.”, siehe 3. Buch Mose, Leviticus 20,13). Nicht besser erging es als “Hexen” und „Heilerinnen“ beschuldigten Hebammen. Wenn sie z. B. Verhütungs- und Abtreibungswissen weitergaben, riskierten sie dafür ihr Leben. (3)

“Peinliche Gerichtsordnung Karls V”

Ca. 200 Jahre später, 1532, wurde die Todesstrafe für homosexuelle Frauen und Männer im ersten allgemeinen deutschen Strafgesetzbuch, in der “Constitutio Criminalis Carolina”, gesetzlich festgeschrieben. Im deutschen Sprachgebrauch heißt sie auch “Peinliche Gerichtsordnung Karls V”. Damit kam das Vorgehen gegenüber Beschuldigten zum Ausdruck: Peinlich befragt, abgeleitet von Pein bzw. Schmerz, weist daraufhin, dass Folter als Mittel zum Erzielen von Geständnissen vorgesehen war. (4) Der einschlägige Artikel 116 lautete: Wenn “mann mit mann, weib mit weib, vnkeusch treiben, die haben auch das leben verwürckt, vnd man soll sie der gemeynen gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum todt richten.” (5) Doch auch andere Tötungsarten kamen zur Anwendung. In einer württembergischen Chronik des Jahres 1660 heißt es, dass dem “Urheber” einer “unflätige(n) Sodomiterey […] erstlich die rechte Hand: hernach den Kopf abgehawen/folgends der Cörper zu Pulver und Asche verbrannt: zween seiner Gesellen aber, deswegen zu Cantstatt auch enthaubtet” wurden. (6)

Quellen:
(1) Siehe: http://www.heiliges-römisches-reich.de/, zuletzt gesehen am 7.7.2016.
(2) Siehe Ottmar Lattdorf: Das Badehaus und andere unzüchtige Sitten des leibeigenen Volkes. In: Wer verfolgte die Hebammen-Hexen? – siehe http://www.berndsenf.de/pdf/HexenHebammenVerfolgung.pdf, S. 15, zuletzt gesehen am 10.7.2016.
(3) Verein zur Förderung der Darstellung mittelalterlichen Brauchtums e.V.: Hebammen als Opfer der Hexenverfolgung, http://www.hexenbad.com/info-hexenhebammen.htm, zuletzt gesehen am 3.7.2016.
(4) Die Constitutio Criminalis Carolina (CCC) – das erste deutsche Strafgesetz – Verfahren und Rechtsgrundlage,  http://www.kreuzzug.de/hexenverfolgung/erste-deutsche-strafgesetz-verfahren.php, zuletzt gesehen am 11.7.2016 sowie Christian Schäfer: Widernatürliche Unzucht (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB), Berlin 2006, S. 21.
(5) Zitiert nach: http://www.koeblergerhard.de/Fontes/PeinlicheGerichtsordnungKarlsV.htm, zuletzt gesehen am 11.7.2016.
(6) Der Sodomiten-Prozeß 1659 – zitiert nach Materialien – Entdeckungsreise in die schwule Geschichte Stuttgarts, Die Grünen, KV Stuttgart, Kein Jahrgang angegeben, S. 2.


1839 / 1845: Liberalisierung als Folge der Französischen Revolution

m8
Seit 1806 bis 1871: Das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg
(Quelle: Großherzogtum Baden: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=598778
und Königreich Württemberg: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=350991)

Französische Revolution

Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde das religiöse Weltbild des Mittelalters zunehmend durch die bürgerliche Weltanschauung der Aufklärung mit ihren Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ersetzt. Vor allem französische Philosophen wie z. B. Voltaire (1694–1778) sprachen sich in ihren Schriften für die Entkriminalisierung der Sodomie aus. Als Ergebnis der Französischen Revolution von 1789 enthielt der “Code Napoleon” von 1810 erstmalig in der Geschichte der Neuzeit keine Strafbestimmungen für Sodomie mehr. (1)

Auswirkungen auf Baden und Württemberg

Diese Ereignisse blieben auch in den deutschen Staaten nicht ohne Wirkung. So setzte sich Paul Johann Anselm von Feuerbach (1777-1833) als erster deutscher Jurist für den Fortfall der Bestrafung homosexueller Handlungen ein, “sofern durch derartige sexuelle Handlungen nicht die Rechtssphäre eines anderen gestört wird” (2). Obgleich er diese vorurteilsfreie Einstellung letztlich nicht durchzuhalten vermochte, hatte er dennoch mit seinem Entwurf des Strafgesetzbuchs für das Königreich Bayern im Jahre 1813 mit dazu beigetragen, dass dort einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen jahrzehntelang nicht mehr geahndet wurden. Diese Rechtsentwicklung fand auch Eingang ins “Strafgesetz für das Königreich Württemberg” von 1839. Nach dessen Artikel 310 war die “widernatürliche Unzucht” straffrei, es sei denn, die Handlungen waren mit der Erregung öffentlichen Ärgernisses verbunden oder der “Beleidigte”, dessen Eltern oder Ehegatten klagten sie an. Sechs Jahre später, 1845, erhielt auch das Großherzogtum Baden ein neues Strafgesetz, das homosexuelle Handlungen im § 371 nur noch in Verbindung mit einem öffentlichen Ärgernis mit bis zu zwei Jahren Arbeitshaus bestrafte. (3)

Von Straftätern zu “Kranken”

Die Vertreter der bürgerlichen Aufklärung konnten sich noch nicht von der kirchlichen Vorstellung lösen, dass Sexualität nur der Fortpflanzung zu dienen habe. Zu sehr war das Thema (Homo-)Sexualität noch ein Tabu. In Menschen mit homosexueller Orientierung sahen sie behandlungsbedürftige Kranke. Diesen sollte nun mit den Fortschritten der Medizin, u. a. mit Kastration, Hypnose, verschiedenen Formen von Chemotherapie, Elektroschockverfahren und Hormontherapie, “geholfen” werden. (4)

Quellen:
(1) Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland – Eine politische Geschichte, München 1989, S. 11ff.
(2) Hier zitiert nach Gisela Bleibtreu-Ehrenberg: Homosexualität – Die Geschichte eines Vorurteils, Frankfurt am Main 1978, S. 319.
(3) Rainer Hoffschildt: Kurze Chronik der Schwulen in Baden-Württemberg mit dem Schwerpunkt Nordbaden – Zusammenstellung aufgrund von Hinweisen aus dem Schwullesbischen Archiv Hannover (SARCH), Hannover 2015.
(4) Hans-Georg Stümke: Homosexuelle in Deutschland – Eine politische Geschichte. München 1989, S. 13ff.


1867: Karl Heinrich Ulrichs‘ Coming-Out

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1f/Karl_Heinrich_Ulrichs_%28from_Kennedy%29.jpg
Karl Heinrich Ulrichs (1825 – 1895)
(Bildquelle: Wikipedia)

Stuttgarter Bürger von 1870 bis 1880

In der Silberburgstraße 102 in Stuttgart lebte fast zehn Jahre lang – von Ende 1870 bis 1880 – einer der weltweit ersten Aktivisten für homosexuelle Gleichstellung und Gleichberechtigung: der 1825 geborene Karl Heinrich Ulrichs. In seiner zuletzt in Stuttgart verfassten Schriftenreihe unter dem Titel “Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe” nannte er die gleichgeschlechtliche Liebe “Uranismus”. Er ging von einer natürlichen, nicht krankhaften Veranlagung aus. (1)

“Ich habe ohne Furcht gehandelt, obwohl mein Herz klopfte” (2)

Im Jahr 1867 forderte er auf dem deutschen Juristentag in München die Straflosigkeit homosexueller Handlungen. Vor allen 500 Teilnehmern bekannte er sich mutig als “Urning”. Obwohl er daraufhin niedergeschrien wurde und seine Rede nicht beenden konnte, schrieb er über seine vermutlich weltweit erste öffentliche Coming-Out-Aktion:

“Bis an meinen Tod werde ich es mir zum Ruhme anrechnen, daß ich am 29. August 1867 zu München in mir den Muth fand, Aug’ in Auge entgegenzutreten einer tausendjährigen, vieltausendköpfigen, wuthblickenden Hydra, welche mich und meine Naturgenossen [gemeint: homosexuelle Männer] wahrlich nur zu lange schon, mit Gift und Geifer bespritzt hat, viele zum Selbstmord trieb, ihr Lebensglück allen vergiftete. Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen.” (3)

Ziele für den Urning-Bund

Ulrichs setzte sich schon damals für die urnische Ehe ein. Für die Idee der Gründung eines Urning-Bundes gab er in seinem Satzungsentwurf folgende “Zwecke” an:

  • a) die Urninge aus ihrer bisherigen Vereinzelung zu reißen und sie zu einer solidarisch verbundenen compacten Masse zu vereinigen;
  • b) gegenüber der öffentlichen Meinung und den Organen des Staats die angeborenen Menschenrechte der Urninge zu verfechten, ihnen namentlich Gleichstellung mit den Dioningen (= Heterosexuelle, Anm. des Autors) vor dem Gesetz und in der menschlichen Gesellschaft überhaupt zu vindiciren;
  • c) eine urnische Literatur zu gründen;
  • d) geeignete urnische Schriften auf Bundeskosten zum Druck zu befördern;
  • e) für die Zwecke der Urninge in der Tagespresse zu wirken;
  • f) den einzelnen Urningen, welche ihres Uranismus wegen zu dulden haben, in jeder Noth und Gefahr beizustehn, ihnen wenn thunlich, auch zu angemessener Lebensstellung zu helfen. (4)

Italien als Exil

1870 versuchte Ulrichs eine Zeitschrift mit dem Titel “Uranus” herauszugeben, welche eine Freiheits-Streiterin für Unterdrückte, eine Verfechterin “von Menschenwürde und Menschenrecht” (5) sein sollte. Allerdings erschien nur eine einzige Nummer. Mit Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurden die strengen preußischen Gesetze gegen die Homosexualität im gesamten Deutschen Reich als § 175 gültig. Aus Enttäuschung darüber verließ Ulrichs 1880 Deutschland und verbrachte die letzten 15 Jahre seines Lebens in Italien. “Exul et pauper”, verbannt und arm, diese Worte stehen auf seinem Grabstein in Aquila, einem kleinen Ort in den italienischen Abruzzen.

Würdigung

Im Jahre 1898, drei Jahre nach Ulrichs Tod, gab der Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld Ulrichs 12-bändige Schriftenreihe “Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe” neu heraus. Im Vorwort schrieb er zur historischen Rolle von Karl Heinrich Ulrichs: “Wenn einst die Nachwelt die Urningsverfolgungen in jenes traurige Kapitel eingereiht haben wird, in welchem die übrigen Verfolgungen andersgläubiger und andersgearteter Mitmenschen verzeichnet sind , – und dass das kommen wird, ist über jeden Zweifel erhaben – dann wird der Name von Karl Heinrich Ulrichs unvergessen dastehen als einer der ersten und edelsten, die in diesem Felde die Wahrheit und Nächstenliebe zu ihrem Recht zu verhelfen, mit Mut und Kraft bemüht gewesen sind.” (6)

m4
Am 120. Todestag Ulrichs, am 14. Juli 2015, wurde in Stuttgart der im Bezirk Süd liegende Dreiecksplatz an der Kreuzung von Lehen- und Filderstraße Karl-Heinrich-Ulrichs-Platz benannt.
(Karte siehe:  http://www.csd-stuttgart.de/2015/index.php/neues/206-ulrichs)
b14
(Bildquelle: Ralf Bogen)
Quellen:
(1) Siehe auch Ralf Bogen, Dieter Salwik, Mathias Strohbach, Thomas Ulmer: Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft – Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit. In: Schwulst Sonderheft 3, April 2010. Hrsg.: Weissenburg e. V. und Schwulst e. V. S. 11f.
(2) Zitiert nach Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs – Sein Leben und sein Werk. Stuttgart 1990, S. 256.
(3) Zitiert nach Jan Feddersen: Vorkämpfer für Urninden und Urninge. Taz, 27.09.2014. Online: www.taz.de/!5032261/, zuletzt gesehen am 28.07.2016.
(4) Zitiert nach Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs – Sein Leben und sein Werk. Stuttgart 1990, S. 92ff.
(5) Zitiert nach Volkmar Sigusch: Karl Heinrich Ulrichs – Der erste Schwule der Weltgeschichte. Berlin 2000. S. 102.
(6) Zitiert nach Hubert Kennedy: Karl Heinrich Ulrichs – Sein Leben und sein Werk.  Stuttgart 1990, S. IV.


1871: Deutsches Reich und der § 175

m9
Lage des Großherzogstums Baden (gelb) und des Königreichs Württembergs (rot) im 1871 gegründeten Deutschen Reich 
(Quelle: englischsprachige Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2089480)

Nach der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Bewegung in den deutschen Teilstaaten 1848/49 und nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges wurde 1871 im Schloss von Versailles das Deutsche Reich mit der Führungsmacht Preußen ausgerufen. Das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg wurden Teilstaaten dieses zweiten Deutschen Reiches. Kennzeichnend für dieses Reich war der wilhelminische Obrigkeitsstaat, der den preußischen Militarismus mit seinen soldatischen Tugenden wie bedingungslosem Gehorsam und Treue forcierte. (1)

Soldatisches Männerleitbild und § 175

Das nun im Reich geltende soldatische Männlichkeits-Leitbild mit dem von männlichen Heranwachsenden geforderten “Schneid” und mit “zackigem Verhalten” ohne jegliches Mitgefühl für andere, brachte Kaiser Wilhelm II in einer Rede anlässlich einer Rekrutenvereidigung 1891 zum Ausdruck:

“Ihr seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und Seele ergeben, es gibt für euch nur einen Feind, und der ist Mein Feind. Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, Brüder, ja Eltern niederzuschießen, aber auch dann müsst ihre Meine Befehle ohne Murren befolgen.” (2)

Diese Vorstellung von soldatischer Männer-Ehre war unvereinbar mit mannmännlichen Liebes- und Sexualbeziehungen. Männerliebenden Männer wurde “weibisches Verhalten” und “Verweichlichung” nachgesagt, wovon sich jeder “normale”, “soldatische” Mann deutlich abzugrenzen hatte. Diese Militarisierung drückte sich in allen gesellschaftlichen Bereichen aus. Dazu gehörte auch das Inkrafttreten des Reichstrafgesetzbuchs (RStGB) am 1. Januar 1872 mit seinem § 175, wonach beischlafähnliche sexuelle Handlungen zwischen männlichen Erwachsenen auch in der Region des heutigen Baden-Württemberg wieder kriminalisiert wurden.

§ 175 im Wortlaut

Nahezu wortgleich mit seinem preußischen Vorbild, dem § 143 des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten (1851) und dem § 152 des Strafgesetzbuchs des Norddeutschen Bundes (1871), heißt es im § 175: “Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.” Die bereits 1853 vom Preußischen Obertribunal vertretene Rechtsauffassung, dass gegenseitige Onanie zwischen Mann und Mann straflos sei, galt unter dem § 175 bis zu seiner Verschärfung 1935 weiter.

Verletzung der Menschenrechte

Mit dem § 175 wurde eine klare Entscheidung gegen die bereits 1868/1869 in anonymen Flugblättern verbreitete Argumentation getroffen, wie diese u. a. von Karl Maria Kertbeny, dem “Erfinder” des Wortes “homosexual”, vertreten wurde:

  • dass solche reaktionäre Sodomie-Gesetze die Menschenrechte verletzen würden,
  • dass der “private und freiwillige” Geschlechtsverkehr nicht Sache des Strafrechts sei,
  • dass homosexuelle Männer aufgrund der preußischen Vorläufer-Gesetze erpressbar und deshalb oft in den Selbstmord getrieben würden,
  • dass Homosexualität angeboren sei und Männer “Sodomie” nicht aus Boshaftigkeit begingen
  • und das homosexuelle Männer nicht von Natur aus „weichlich“ bzw. „weichlicher“ als heterosexuelle Männer seien, sondern dass viele große „Helden“ der Geschichte homosexuell gewesen seien.
Quellen:
(1) Siehe Rüdiger Lautmann: Preußisch-deutscher Militarismus und Homophobie. In: Invertito, 16. Jahrgang 2014. Hamburg 2015. S. 69-102.
(2) Zitiert nach Geschichte – Fakten nachschlagen, Zusammenhänge erkennen, Köln 2000, S. 267.


1888 / 1893: Skandal am Königshof


König Karl von Württemberg (Foto von Friedrich Brandseph, ca. 1861)

Lieber abdanken, als sich vom Freund trennen

Am 23. Oktober 1888 berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten im Beitrag “Unliebsame Erörterungen” über die Zustände in der Residenz eines benachbarten Staates. Obwohl weder Name noch Ort genannt wurden, war für die Leser ersichtlich, wer gemeint war. König Karl von Württemberg (1823-1891) hatte sich in den Amerikaner Charles Burger Woodcock verliebt und ihn u. a. mit einer Villa in Friedrichshafen beschenkt. Aufgrund der Veröffentlichung wurde dem König von seinem Ministerpräsidenten Hermann von Mittnacht die sofortige Trennung von Woodcock empfohlen. Der König erklärte jedoch, dass er eher abdanken wolle, als sich von diesem zu trennen. Der Ministerpräsident erreichte durch Zahlung einer Abfindung von 300.000 Reichsmark, dass Woodcock sich vom König trennte, auf die ihm geschenkte Villa in Friedrichshafen verzichtete und fortan dem Hof fernblieb. Karls Trennungsschmerz soll heftig gewesen sein, doch bereits ein Jahr später hatte er in dem Theatermaschinisten Wilhelm Georges einen neuen “Herzensfreund” gefunden. (1)

Erpressungsversuch

Zwei Jahre nach dem Tod des Königs kam es in Stuttgart zu einem Prozess wegen Erpressung. Nach einem Artikel in der Schwäbischen Tagwacht, dem Organ der SPD in Württemberg, vom 14. Januar 1893 habe Anfang der 1880er Jahre der Geheime Hofrat v. Jackson, der als ein bevorzugter Günstling des verstorbenen Königs Karl beschrieben wurde, seinen 36jährigen “Herrschaftsdiener” Carl Maun aus Laufen “zur Verübung fortgesetzter unsittlicher Handlungen bestimmt.” Nachdem dieser aus dem Dienst ausgeschieden war, suchte er “jenes frühere, schmutzige Verhältnis für sich nutzbar zu machen, indem er von seinem früheren Herrn dadurch einzelne Geldsummen zu erpressen wußte, daß er diesen mit Strafanzeige bedrohte.” Nachdem Jackson an Maun über 1000 Reichsmark gezahlt hatte, erstattete er selbst Strafanzeige gegen Maun wegen Erpressung. Maun wurde vom Gericht zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Jackson verließ Stuttgart mit unbekanntem Aufenthalt. (2)

“An den Pranger mit diesen Wüstlingen”

Homosexuelles Verhalten und Empfinden wurde von der württembergischen SPD als Beweis für den moralischen Verfall und die Dekadenz der herrschenden Klasse gesehen. So hieß es in einem Kommentar in der Schwäbischen Tagwacht von 18. Februar 1893: “daß in den feineren Kreisen Stuttgarts dieses Laster der Päderastie in außergewöhnlichem Umfang grassiere, in jenen Kreisen also, die über das Unsittliche der sozialdemokratischen Lehren nicht genug losziehen können. […] Allein, wir haben nicht Lust, die Maxime der bürgerlichen Blätter zu befolgen, und über solche Dinge diskret zu schweigen, sobald es sich um die Crème der Gesellschaft handelt. Im Gegenteil: an den Pranger mit diesen schamlosen, ‚vornehmen‘ Wüstlingen, an den Pranger mit der erbärmlichen Heuchelei jener Klasse, der sie angehören.” (3)

Quellen:
(1) Siehe Dorothea Keuler: Der König in Schwulitäten – Karls Liebesaffäre mit Charles Burger Woodcok erschüttert Württemberg. In: Stuttgarter Nachrichten vom 30.11.2013.
(2) Einen interessanten Einblick, Schwäbische Tagwacht vom 14.1.1893.
(3) Einiges aus der guten Gesellschaft, Schwäbische Tagwacht vom 18.2.1893.


Um 1900: Angst vor Entdeckung

Dass der § 175 dafür sorgte, dass Männer begehrende Männer in dauernder Angst vor Entdeckung und Erpressern lebten und einige auch zum Suizid getrieben wurden, zeigen folgende von Rainer Hoffschildt recherchierten Beispiele aus Mannheim, Heidelberg und Freiburg (1):

Selbstmord eines Mannheimers

b13
(Die Post, Berlin, 26.7.1911)

Suizidversuch in Heidelberg

b12   b11
(Mannheimer Generalanzeiger, 13.9.1912)

Erpressung in Mannheim

b10   b9
(Frankfurter Kleine Presse, 28.10.1912)

Erpressung in Freiburg

b8
(Homosexuelle Publikation “Freundschaft”, Jg. 2, 1920, Nr. 51, S.3)

Weitere Erpressungen

b7
(Mitteilungen des WhK Nr. 12, Januar 1928, S. 94)
Quelle:
(1) Rainer Hoffschildt: Kurze Chronik der Schwulen in Baden-Württemberg mit dem Schwerpunkt Nordbaden – Zusammenstellung aufgrund von Hinweisen aus dem Schwullesbischen Archiv Hannover (SARCH), Hannover 2015.

 

Zurück zur Übersicht    Nach oben