Verschwiegen und vergessen – ein Problemaufriss.

Claudia Weinschenk

“Dir Anna Aebi-Eysoldt,
die Du leiden mußtest, wie wenige Menschen leiden müssen,
leiden unter der Erbärmlichkeit und Niedrigkeit aller Art von Schädlingen –
geknickt in der Blüte Deines Lebens –
gefesselt an das Lager des Siechtums, bis der Tod Dein Edles Antlitz küßt –
Dir sei gewidmet dieses Buch der Fürsprache und des Protestes,
Dir, dem hohen, reinen Geistes-Menschen!
Dir zur Ehre!
Deinen Peinigern zur Schmach!
Deinen Leib haben sie zerbrochen, aber Deine Seele, Deine hohe, reine Seele mußten sie Dir lassen!”

 


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Johanna von Elberskirchen, aus der Zeitschrift “Kinderheil” 1905
(Bildquelle: Aus: Zeitschrift Kinderheil 1905, Wikipedia)

Mit dieser Widmung an ihre Geliebte leitete 1904 die Frauenrechtlerin, Medizinerin, Juristin und Publizistin Johanna Elberskirchen (1864 – 1943) ihr erstes Buch zum Thema Homosexualität “Die Liebe des dritten Geschlechts” (1) ein, in dem sie “dagegen [protestiert], daß der Homosexuale eo ipso als Psychopath, als entartetes, demoralisiertes, minderwertiges Subjekt gebrandmarkt wird.” (2)

Frauenliebende Frauen in der Geschichte sind nur schwer aufzufinden – sie blieben und bleiben weitgehend unsichtbar. Elberskirchen war eine der wenigen Frauen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die offen eine lesbische Beziehung lebten. Zwar gab es unter den Aktivistinnen der Frauenrechtsbewegung durchaus auch Frauenpaare – die bekanntesten sicherlich Anita Augspurg und Lida-Gustava Heymann –, die Art ihrer Beziehung wurde aber niemals thematisiert. Romantische Beziehungen und sexuelles Begehren waren und blieben privat, gleichgültig ob sie gleichgeschlechtlich oder heterosexuell ausgerichtet waren. Erst als 1909 anlässlich einer Strafrechtsreform der Miteinbezug weiblicher Homosexualität in den § 175 diskutiert wurde, meldete sich die Frauenbewegung zu Wort und wandte sich, allerdings aus formalen Gründen, dagegen.

Die Situation lesbischer Frauen muss im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Realität von Frauen ganz allgemein gesehen werden. Das bürgerliche Frauenbild verdrängte Frauen aus der Öffentlichkeit. Frauen waren auf “Privates” beschränkt. Hier, in der “Nicht-Öffentlichkeit”, im häuslichen Bereich konnten Gefühle, auch romantische Beziehungen, gelebt werden. (3) Anders als bei Männern gefährdeten die im intimen privaten Bereich gelebten lesbischen Beziehungen nicht die gesellschaftlichen / politischen Strukturen. (4) Somit musste weibliche Homosexualität auch nicht unter Strafandrohung gestellt werden. (5)
Erst durch Freud rückte weibliche Homosexualität ins Licht der Öffentlichkeit. Seit den 1870er-Jahren wurde Homosexualität pathologisiert (6), medizinisch analysiert und es wurden Therapieversuche angestellt. Das bewirkte, dass nur wenige frauenliebende Frauen sich “outeten”.

Ein Problem der (Nicht-)Auffindbarkeit lesbischer Frauen liegt im Eigenverständnis dieser Frauen. Nur wenige hätten sich selbst als “lesbisch” bezeichnet. In einem Interview, das 2006 im Rahmen eines Zeitzeugenprojekts mit Lesben und Schwulen geführt wurde, bekannte sich eine interviewte Frau auch nicht auf Nachfrage dazu lesbisch zu sein. Sie wurde 1915 in Mannheim geboren und hatte im Interview zumindest angedeutet, dass sie in einem Internierungslager nach dem Zweiten Weltkrieg eine Frauenbeziehung hatte. Weiter in die Gegenwart gehend wollte sie nichts über Beziehungen erzählen. (7)
Forschende, die sich nicht explizit mit diesem Thema beschäftigen, übersehen darüber hinaus in Unkenntnis der Eigenbenennung von (mehr oder weniger) offen lebenden Lesben Hinweise. Lesbische Frauen nannten sich ab und zu “Lesbierin”, weitaus häufiger aber einfach “Freundinnen” – hier muss zwischen den Zeilen gelesen werden. Weitere Eigenbezeichnungen waren “Tribade” oder “Urninde”, “Garconne” oder “Männin”. Auch der Begriff “Das dritte Geschlecht” taucht gelegentlich auf. Letzteres ist allerdings eher ein Begriff der wissenschaftlichen Diskussion mit dem Ziel der Gleichstellung von nicht der heteronormativen Vorstellung entsprechenden sexuellen Orientierungen.
Eine Untersuchung von biografischen Materialien unter diesen Prämissen hat bislang nicht oder kaum stattgefunden. Wahrscheinlich können auch dann nur Vermutungen bezüglich der sexuellen Orientierung dieser Frauen angestellt werden. (8)

Exemplarisch soll dies an folgender Biografie aufgezeigt werden:

Maria von Linden (1869 – 1936)
Chemikerin

Maria von Linden wurde in Schloss Burgberg bei Heidenheim geboren. Nachdem sie die Schulausbildung im Victoria-Pensionat in Karlsruhe absolviert hatte, konnte sie mit Hilfe ihres Onkels Joseph Freiherr von Linden, württembergischer Innen- und Außenminister und Begründer des gleichnamigen Völkerkundemuseums in Stuttgart, Privatunterricht nehmen und  1891 als erste Frau in Württemberg als Externe am Realgymnasium in Stuttgart das Abitur ablegen. Ebenfalls ihrem Onkel verdankte sie die Zulassung als Gasthörerin an der Universität Tübingen, wo sie seit 1892 – wiederum als erste Frau in Württemberg – naturwissenschaftliche Studien durchführte. Wegen ihrer Leistungen wurde sie 1895 zur Promotion zugelassen. 1899 nahm von Linden eine Stelle am Hygiene-Institut der Universität Bonn an. Sie entdeckte dort die antiseptische Wirkung von Kupfer, die dann von der Heidenheimer Firma Hartmann zur Herstellung von sterilem Verbandsmaterial genutzt wurde. Sie wurde zum “Titular-Professor” ernannt , war damit die erste Professorin Deutschlands, bekam aber trotz vielfacher Bemühungen nicht die Möglichkeit zu habilitieren. Als schon früh überzeugte Gegnerin des Nationalsozialismus  emigrierte von Linden nach Lichtenstein, wo sie sich in der Krebsforschung betätigte. Dort starb sie 1936.

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Maria von Linden, Stich von 1895 nach einer Fotografie von Julius Wilhelm Hornung
(Bildquelle: Stich von 1895 nach einem Foto von Julius Wilhelm Hornung, Wikipedia)

Lebenslauf und Habitus von Lindens berechtigen zur Vermutung, dass sie eine frauenliebende Frau war. Allerdings wurden bislang – wie bei so vielen Frauen – keinerlei Beweise dafür gefunden.

Da weibliche Homosexualität in Deutschland niemals durch den § 175 verboten worden war (anders in Österreich: die dortigen §§ 129 / 130 betrafen auch sexuelle Handlungen zwischen Frauen), ist auch eine Verfolgungsgeschichte von frauenliebenden Frauen im Nationalsozialismus nur unter Schwierigkeiten zu erstellen. Lesben kamen nicht oder nur selten mit der Begründung “lesbisch” ins KZ und wurden dort gequält und getötet. Sie wurden nicht mit einem rosa Winkel gekennzeichnet. Bislang wurden nur wenige Akten gefunden (ungefähr ein Dutzend) (9), die die Vermutung rechtfertigen, dass lesbische Frauen unter dem Oberbegriff “Asozial” in ein KZ eingeliefert wurden. Lesbische Frauen wurden unter rassistischen oder politischen Gesichtspunkten eingeliefert und mit den entsprechenden Kennzeichen charakterisiert.

Die Erforschung der Verfolgung von frauenliebenden Frauen im Nationalsozialismus muss unter anderen Prämissen erfolgen. Sie muss am Alltagsleben von Lesben ansetzen, muss Repressionen vielfältigster Art miteinbeziehen. “Verfolgung” von Lesben ist nicht gleichzusetzen mit “Verfolgung” von Schwulen. Auch wenn Lesben nicht (oder kaum) (10) direkt durch § 175 bedroht waren, so waren sie doch von Repressionen, Unterdrückung, Einschüchterung, von ständiger Gefahr der Denunziation, von Verhaftung, Verhören und Ausgrenzung bedroht. (11)
Die Erforschung der Verfolgung frauenliebender Frauen im Nationalsozialismus ist schwierig. Es müssen neue Quellengruppen herangezogen werden. Die KZ-Akten von Frauen (vor allem die mit dem Überbegriff “Asozial”) müssen auf Hinweise untersucht werden, ebenso wie Akten von Arbeitshäusern und -lagern und die von psychiatrischen Einrichtungen. Kriminalpolizeiliche Akten und Gerichtsunterlagen über Kuppelei, Prostitution, Unzucht mit Abhängigen und ähnlichen Paragraphen müssen berücksichtigt und untersucht werden. (12)
Erste Forschungen auf diesem Gebiet finden in Berlin und Hamburg statt. Im Süden Deutschlands steht dies noch aus.


Quellen:
(1) Johanna Elberskirchen, Die Liebe des dritten Geschlechts. Homosexualität, eine bisexuelle Varietät. Keine Entartung – keine Schuld, Leipzig 1904
(2) Ebd S. 38
(3) Vgl. Lilian Faderman, Köstlicher als die Liebe der Männer. Romantische Freundschaft und Liebe zwischen Frauen von der Renaissance bis heute
(4) S. Gudrun Hauer, Der NS-Staat – ein zwangsheterosexuelles / heteronormatives Konstrukt? S. 32f. In: Michael Schwartz (Hrsg): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi- und intersexuellen Menschen 1933 – 1945, München 2014 S. 26 -33
(5) Claudia Schoppmann, Rahmenbedingungen und Anfänge der Organisation seit 1900, Anm. 6 S. 25. In: Gabriele Dennert, Christiane Leidinger, Franziska Rauchut (Hrsg:, In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Berlin 2007, S. 12 – 26. Schoppmann beschreibt hier die Entwicklung, die zur Bestrafung ausschließlich männlicher Homosexualität im § 175 geführt hat. Allerdings gab es 1909 Bestrebungen, diesen Paragraphen auch auf weibliche Homosexualität auszuweiten, was sich durch Intervention von Frauenrechtsaktivistinnen verhindern ließ. Ebd. S. 12f
(6) Ebd. S. 12
(7) Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg / Werkstatt der Erinnerung 1232. Entstanden im Rahmen des Dokumentarfilms „Verzaubert“, Deutschland 1992, 89 Min., Regie: Dorothée von Diepenbroick, Jörg Fockele, Jens Golombek, Dirk Hauska, Sylke Jehna, Claudia Kaltenbach, Ulrich Prehn, Johanna Reutter, Katrin Schmersahl.
(8) Der neuere wissenschaftliche Diskurs beschäftigt sich allerdings mit der Frage: Wie definiert sich eine lesbische Beziehung? Kann die Definition von Homosexualität, die von männlicher Homosexualität ausgeht und die ausschließlich über sexuelle Handlungen ausgelegt ist, tatsächlich auch auf Frauenbeziehungen übertragen werden?
(9) Vgl. Claudia Schoppmann, Zwischen strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im ‚Dritten Reich. In: Insa Eschebach, (Hrsg.): „Homophobie und Devianz: Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus“, 2. Aufl. Berlin 2016 S. 35 – 51
(10) Frauen wurden wegen Beihilfe zur Unzucht verurteilt; Quellenangabe zu Verurteilung von Frauen §175 wg Beihilfe und Mittäterschaft verurteilt; inwiefern nach der Strafrechtsnovelle von 1935 auch Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen nach dem § 175 verurteilt wurden, ist bislang nicht hinreichend erforscht. Vgl. Claudia Schoppmann, Lesbische Frauen und weibliche Homosexualität im Dritten Reich. Forschungsperspektiven, S. 89. In: Michael Schwartz (Hrsg): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi- und intersexuellen Menschen 1933 – 1945, München 2014 S. 85 – 91; Lt. Schoppmann sind in einer Statistik zum § 175 1937 zwei, 1940 eine und 1941 drei Frauen aufgeführt, vgl. Claudia Schoppmann, Zwischen strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im ‚Dritten Reich, S. 41. In: Insa Eschebach, (Hrsg.): „Homophobie und Devianz: Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus“, 2. Aufl. Berlin 2016 S. 35 – 51
(11) Vgl. Jens Dobler, Unzucht und Kuppelei. Lesbenverfolgung im Nationalsozialismus. In: Insa Eschebach (Hrsg.), Homophobie und Devianz, Weibliche und männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin 2. Aufl. 2016, S. 53 – 62
(12) vgl. die Auflistung von Forschungsdesiderata in: Claudia Schoppmann, Zwischen strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung: Lesbische Frauen im „Dritten Reich“. In: Michael Schwartz (Hrsg): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi- und intersexuellen Menschen 1933 – 1945, München 2014, S. 88- – 91

 

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