Wie recherchieren?
Jede(r), die/der über die Lebenssituation von LSBTTIQ-Menschen in der Region des heutigen Baden-Württemberg recherchieren und ein Beitrag zu deren Sichtbarkeit leisten möchte, stellt sich Fragen wie folgende:
- Wie recherchiert man in einem (Staats-)Archiv?
- Was sind Schutz- und Sperrfristen?
- Welche Suchbegriffe kann ich nutzen?
- Wie sind überlieferte Dokumente in den Archiven sortiert und welche einschlägige Bestände gibt es?
Wir veröffentlichen an dieser Stelle den Beitrag „Kleiner Archivleitfaden zum Schicksal homosexueller Männer (Landesarchiv Baden-Württemberg“ des Historikers Frederick Bacher, der eine Reihe der oben genannten Fragen für die Erforschung der Ausgrenzungs- und Verfogungsgeschichte homosexueller Männer beantwortet.
Dieser Leitfaden wurde im Rahmen eines Projekts über die „didaktisch begleitende Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung in Baden-Württemberg“ erstellt, das von der „Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg“ und dem „schwul-lesbischen Zentrum Weissenburg e.V.“ in Stuttgart in die Wege geleitet und finanziert wurde.
Dr. des. Frederick Bacher ist seit März 2015 Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Geschichte Württembergs während der Weimarer Republik und der NS-Zeit.
Für zusätzliche Informationen zu den in der Gedenkkarte dargestellten Personen sowie für Erkenntnisse zu weiteren NS-Opfer sind wir dankbar: kontakt@der-liebe-wegen.org.
Kleiner Archivleitfaden zum Schicksal homosexueller Männer
(Landesarchiv Baden-Württemberg)
Frederick Bacher
Einleitung
Von 1871/72 bis 1969 wurde das Leben Tausender homosexueller Männer durch staatliche Verfolgung bestimmt. Einvernehmlicher Sex zwischen Männern galt wegen des berüchtigten Paragraphen 175 als Straftatbestand und wurde in der Regel mit Gefängnis geahndet.[1] Unter der nationalsozialistischen Regierung stieg die Zahl der verurteilten Männer durch Strafrechtsverschärfung (1935) und Errichtung einer „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ (1936) sprunghaft an. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörte der demokratische Rechtsstaat weiterhin ganze bürgerliche Existenzen durch Repression und Verfolgung.[2]
Die Leidensgeschichte dieser Männer verewigte sich in zahlreichen staatlichen Unterlagen zur „widernatürlichen Unzucht“, die während der Verfolgung von Polizei und Staatsanwaltschaft über vier Epochen hinweg entstanden sind und heute als Archivgut in den Staatsarchiven aufbewahrt werden. Das Studium dieser Dokumente, ein „entdeckendes“ und „forschendes Lernen“[3], führt zu einem tieferen und besseren Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart.
In den nur spärlich vorhandenen Quelleneditionen zur Homosexuellenverfolgung in Deutschland[4] findet man nur gekürzte und bearbeitete Beispiele wieder, die sich zudem nicht explizit auf die Region Baden-Württemberg beziehen. Der Gang in ein Archiv ist demnach gerade bei landesgeschichtlichen Fragestellungen unerlässlich. Im Landesarchiv Baden-Württemberg lagern zahlreiche Unterlagen zum Schicksal homosexueller Männer. Die Suche nach diesem Quellenmaterial ist jedoch eine überaus arbeitsintensive Angelegenheit. „Wer im Archiv recherchiert“, so betont der Archivar Martin Burckardt zurecht, „benötigt Geduld und Frustrationstoleranz“[5]. Kenntnisse des „Bestandumfanges“ und der „Zugangssystematik“ gehören ebenso zum Rüstzeug eines jeden Archivbesuchers wie „Selektionsvermögen“ und „Lesekompetenz“.[6] Es ist oft ein holpriger, sich aber lohnender Weg, bis die forschende Person das Archivgut zu Gesicht bekommt; egal um was für ein Thema es sich letzten Endes handelt. Dieser kleine Archivleitfaden soll in erster Linie als eine Art Gebrauchsanleitung für ehrenamtliche Forscher*Innen verstanden werden, die sich mit der Homosexuellenverfolgung in Südwestdeutschland anhand der Originalquellen auseinandersetzen möchten und sich der Vergangenheit somit authentisch nähern möchten.[7]
Insbesondere das Aufspüren von Unteralgen zum Schicksal homosexueller Männer ist eine Herausforderung, das Erfahrungswissen voraussetzt. Über die Eingabe von Suchbegriffen in eine digitale Archivdatenbank kommt man nur bedingt weiter. Erst über Umwege wird das Archivgut zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer sichtbar werden. Dieser Archivleitfaden soll dabei helfen, Akten zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer im Landesarchiv Baden-Württemberg ausfindig zu machen. Darüber hinaus möchte sich der Autor auch an Forscher*Innen außerhalb Baden-Württembergs wenden, zumal sich die verschiedenen Staatsarchive in ihrer Logik nur unwesentlich unterscheiden.[8] Nicht zuletzt möchte diese Gebrauchsanweisung ganz allgemeine Fragen zum Archiv klären, gerade weil sich das Verständnis von Archiven im digitalen Zeitalter schneller ändert als jemals zuvor.[9]
Was ist eigentlich ein Archiv?
Umgangssprachlich ist ein Archiv ein Ort oder Gebäude, an dem Unterlagen aus der Vergangenheit aufbewahrt werden.[10] Das können sowohl Akten, Briefe, Urkunden, Zeitschriften und Tagebücher als auch Karten, Filme und Audioaufnahmen sein. Im großen Unterschied zur Bibliothek werden in einem Archiv in der Regel Unikate aufbewahrt, die eng an den Entstehungsprozess geknüpft sind.[11] Im strengen archivfachlichen Sinne ist ein Archiv eine Institution, die amtliches und nichtamtliches Archivgut verwahrt. Voraussetzung ist, dass das amtliche Archivgut im Geschäftsgang einer juristischen oder natürlichen Person entstanden ist, zur Erledigung der laufenden Geschäfte nicht mehr benötigt wird und bleibenden Wert besitzt.[12]
In nahezu jedem Archiv werden Unterlagen in großer Zahl aufbewahrt. Welches Archiv letzten Endes in Frage kommt, hängt immer von der Thematik und Fragestellung ab. So verwahrt das Stadtarchiv Stuttgart beispielsweise Unterlagen der Stadtverwaltung Stuttgart, das Bundesarchiv Abteilung Militärarchiv Freiburg sammelt Archivalien der staatlich militärischen Stellen, das Kreisarchiv Esslingen hingegen hortet historische Überlieferungen des Landkreises Esslingen und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ist in erster Linie für unikale Schriftstücke, Bilder und Objekte zur deutschsprachigen Literatur und Ideengeschichte zuständig. Andere Archive sammeln wiederum ganz andere Dinge. Egal um was für ein Archiv es sich letzten Endes auch handelt, „historische Archive sind […] ein unverzichtbarer Teil der Geschichts- und Erinnerungskultur.“[13]
Was ist ein Staatsarchiv?
Staatliches Handeln wurde und wird in alle Regel dokumentiert und archivgesetzlich aufbewahrt.[14] Sowohl ein Erlass des Innenministers von Baden-Württemberg als auch eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart wird daher aktenkundig: „Akten und Recht definieren sich wechselseitig.“[15] Werden die Akten „von Regierung, Justiz und Verwaltung“ nicht mehr von der Behörde „zur laufenden Aufgabenerfüllung“ benötigt, kommen sie nach Ablauf von Fristen in ein Staatsarchiv und werden erschlossen und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.[16] Da sexuelle Handlungen unter homosexuellen Männern seit 1871/72 nach § 175 StGB vom Staat strafrechtlich verfolgt wurden, kommen für die Überlieferung vor allem Staatsarchive in Betracht. Es gibt daher in der Regel zwei Möglichkeiten, wo sich staatliche Unterlagen befinden: In der Behörde (z. B. Landesgefängnis Ulm) und im zuständigen Archiv (z. B. Staatsarchiv Ludwigsburg).
Der bleibende Wert wird in der Regel nach archivrechtlichen Bestimmungen von dem Archivar im Benehmen mit der anbietenden Stelle festgelegt. Wird das Archivgut mit dem Prädikat „archivwürdig“ deklariert, wird es in das zuständige Archiv überführt. Die Aussortierung der „belanglosen“ Akten wird bei den Archivwissenschaftlern „Kassation“ genannt. Der „Wert“ einer Akte kann sowohl etwas mit dem realistischen Abbild der Gesellschaft zu tun haben als auch mit der Diskussion mit der Forschung oder der interessierten Öffentlichkeit. Der Bewertungskontext dieser Kassationsprinzipien hat sich in den letzten Jahren allerdings selten geändert.[17] Für die Fragestellung heißt das, dass immer nur ein Teil der strafrechtlichen Unterlagen archivgerecht aufbewahrt werden. Neben der datenschutzgerechten Kassation kann es zudem vorkommen, dass Akten durch Kriegseinwirkungen und vorsätzlicher Vernichtung zerstört wurden.
Zu den Staatsarchiven gehören sowohl Bundes- als auch Landesarchive. Während das Bundesarchiv Archivgut des Bundes sichert und verwahrt (z. B. Akten des ehem. Reichsjustizministeriums), konzentrieren sich die Staatsarchive der Länder hingegen auf staatliches Archivgut der jeweiligen Länder (z. B. württembergisches Justizministerium). Jedes der 16 Bundesländer hat mindestens ein Staatsarchiv; in den meisten gibt es jedoch weit mehr.[18] In Baden-Württemberg übernehmen die Abteilungen des Landesarchivs Baden-Württemberg die Aufgaben eines Staatsarchivs, die im Landesarchivgesetz Baden-Württemberg verankert sind: „Das Landesarchiv verwahrt, erhält und erschließt als Archivgut alle Unterlagen, die von den Behörden, Gerichten und sonstigen Stellen des Landes, deren Funktionsvorgängern oder von Rechtsvorgängern des Landes übernommen worden sind und die bleibenden Wert haben.“[19]
Nahezu jeden Tag wandern neue Akten von den Landesbehörden in eine der acht Abteilungen des Landesarchivs. „So werden aus den Verwaltungsunterlagen der Gegenwart die historischen Quellen der Zukunft.“[20] Welches Archiv die Akten erschließt, bewertet und katalogisiert entscheidet die Zuständigkeit des jeweiligen Archivs (Sprengelzuständikeit). Die Abteilung Staatsarchiv Freiburg ist beispielsweise für den Regierungsbezirk Freiburg zuständig. Es verwahrt daher alle schriftlichen Überlieferung der staatlichen Mittel- und Lokalbehörden sowie die Bestände der Zentralbehörden des Landes (Süd-) Baden aus der Zeit 1945-1952 auf. Im Staatsarchiv Ludwigsburg werden unter anderem Akten von Polizei und Justiz des nordwürttembergischen Raumes aufbewahrt, das Staatsarchiv Sigmaringen sammelt die schriftliche Überlieferung der staatlichen Mittel- und Lokalbehörden aus dem früheren Regierungsbezirk Hohenzollern und das Generallandesarchiv Karlsruhe, das einstige Hauptarchiv Badens, dokumentiert die Überlieferungen der badischen Mittel- und Unterbehörden aus dem nordbadischen Raum. Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart befinden sich in erster Linie Unterlagen der obersten Landesbehörden (Ministerien) aber auch Akten zu militärischen Strafverfahren aus dem Ersten Weltkrieg und dem Königreich Württemberg.[21]
Im Landesarchiv Baden-Württemberg befinden sich demnach alle Bestände der mittleren und höheren Justiz.[22] Darunter fallen zum Beispiel Staatsanwaltschaften, Gefängnisse und Justizvollzugsanstalten, Amtsgerichte, Landesgerichte, Oberlandesgerichte oder Sondergerichte; im Staatsarchiv Ludwigsburg beispielsweise Unterlagen zum Landesgericht Ulm, Landesgefängnis Ulm sowie zur Staatsanwaltschaft Ulm. Im Staatsarchiv Sigmaringen wiederum Akten der Staatsanwaltschaft Hechingen oder der Staatsanwaltschaft Rottweil. Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart muss hingegen für Unterlagen aus dem württembergischen Innen- und Justizministeriums aufgesucht werden. Fünf Abteilungen waren in der Nachkriegszeit für die Erschließung, Bewertung und Katalogisierung der Unterlagen zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer in Baden-Württemberg zuständig: Das Staatsarchiv Freiburg, das Staatsarchiv Ludwigsburg, das Staatsarchiv Sigmaringen, das Generallandesarchiv Karlsruhe und das Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Alles in allem schaffen die genannten Staatsarchive dadurch Transparenz, da sie staatliches Verwaltungshandeln auf längere Sicht sichtbar werden lassen.[23]
Was sind Schutz- und Sperrfristen?
Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, schrieb einmal, dass „verschiedene Ideen, Werte und Rechte miteinander vor den Toren der Archive in Konflikt geraten“ und daher „einer sorgfältigen Abwägung“ bedürfen.[24] Was ist mit diesem Satz gemeint? Unterlagen zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer enthalten hoch sensible Angaben über die verurteilte Person. In den Gerichtsprotokollen und medizinischen Gutachten sind sowohl Passagen über das Sexualleben als auch über den psychischen und physischen Gesundheitszustand des Angeklagten enthalten. Es erklärt sich von selbst, dass Unterlagen zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer aus den letzten 90 Jahre mit Sperrfristen ausgestattet sind, um die Privatsphäre des Angeklagten zu schützen. Allgemeine Persönlichkeitsrechte kollidieren daher bei dem Thema Homosexuellenverfolgung unweigerlich mit der Forschungs- und Informationsfreiheit.[25]
Schutz- und Sperrfristen können die Benutzung der Unterlagen daher unterbinden. Obwohl das Landesarchiv Baden-Württemberg prinzipiell für jeden Interessenten offensteht, wird der Zugriff durch das Landesarchivgesetz somit eingeschränkt. Prinzipiell darf Archivgut immer erst 30 Jahre nach dem Entstehen genutzt werden; in Fällen der Geheimhaltung sogar erst 60 Jahre später. Besonders bei personenbezogenen Unterlagen (z. B. Gerichtsakten und medizinische Gutachten) sind weitere Einschränkungen durch das Landesarchivgesetz vorgegeben: „Bezieht es sich nach seiner Zweckbestimmung auf eine natürliche Person, so darf es frühestens 10 Jahre nach deren Tod genutzt werden; kann der Todestag nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand festgestellt werden, endet die Sperrfrist 90 Jahre nach der Geburt.“[26] Im Bundesarchiv Abteilung Militärarchiv Freiburg werden Akten mit personenbezogenen Daten sogar erst 30 Jahre nach Todesdatum bzw. 110 Jahre nach Geburtsdatum herausgegeben (Bundesarchivgesetz).[27] Das Landes- und Bundesarchivgesetz klärt daher, welche Akten eingesehen werden dürfen und welche nicht. Gerichts- oder Personalakten aus der Zeit des Königreichs und des Freien Volksstaats Württemberg sind in der Regel einsehbar, da die Geburt aller beteiligten Personen weit über 90 Jahre zurückliegt. Bei Akten aus der NS-Zeit wird es schon schwieriger, da nicht immer zu hundert Prozent garantierte werden kann, ob die Person schon über 10 Jahre tot ist. Bei Archivalien aus der Bundesrepublik ist die Einsicht in der Regel mit Auflagen verbunden, die es unbedingt zu berücksichtigen gilt.
Das Landesarchiv Baden-Württemberg kann Sperrfristen jedoch verkürzen, wenn schutzwürdige Belange des Betroffenen nicht entgegenstehen: „Eine Verkürzung der Sperrfrist nach Absatz 2 Satz 3 ist nur zulässig, wenn die Person, auf die sich das Archivgut bezieht, oder im Falle ihres Todes ihr Ehegatte, ihre Kinder oder ihre Eltern eingewilligt haben oder wenn die Nutzung zu wissenschaftlichen Zwecken oder zur Wahrnehmung berechtigter Belange, die im überwiegenden Interesse einer anderen Person oder Stelle liegen, unerlässlich ist und durch Anonymisierung oder durch andere Maßnahmen die schutzwürdigen Belange des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden.“[28] Jede Person kann daher eine Sperrfristverkürzung beantragen, sofern er aus wissenschaftlichen oder privaten Interesse eine angemessene Methode und Darstellung wählt und die Person nicht beim vollen Namen nennt. Das heißt, dass es durchaus im Bereich des Möglichen ist, Unterlagen zur Strafverfolgung homosexueller Männer aus der Bundesrepublik zu bestellen, sofern sich die Nutzer*In an die genannten Regeln hält. Bis zum Ablauf der Schutzfrist sind jegliche Merkmale, die eine Reidentifikation der betroffenen Personen ermöglichen, zu anonymisieren! Alle Sperrfristverkürzungen müssen im Archiv schriftlich beantragt werden und werden nach einer Ermessensentscheidung vom Archiv zeitnah bewilligt oder abgelehnt.
Das Problem mit den Suchbegriffen!
Neben den Schutz- und Sperrfristen hat der ehrenamtlich Forschende beim Thema „Homosexuellenverfolgung“ vor allem mit den Suchbegriffen zu kämpfen, die beim ersten Blick sowohl „diskriminierend“ als auch benutzerunfreundlich sind. Unterlagen zur Homosexuellenverfolgung sind in aller Regel nur über die Schlagwörter „Sittlichkeitsverbrechen“, „Unzucht“, „gleichgeschlechtliche Unzucht“ und vor allem „widernatürliche Unzucht“ aufzuspüren. „Schuld“ daran ist weniger das Gliederungsprinzip des Landesarchivs Baden-Württembergs als vielmehr die administrative Logik staatlicher Verwaltungspraktiken sowie der Sprachjargon vergangener Zeiten. Bestände des Landesarchivs Baden-Württemberg sind in der Regel nach dem Provenienzprinzip gegliedert; das heißt nach der Herkunft des Bestandes und nicht nach inhaltlichen Kriterien (Pertinienz).[29] Ein Beispiel soll das Problem verdeutlichen. Herr Mustermann wurde 1936 wegen „widernatürlicher Unzucht“ (Paragraph 175) von der Staatsanwaltschaft Stuttgart zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nachdem die Gerichtsakte von der Staatsanwaltschaft nicht mehr benötigt wurde, kam sie in die Hände des Staatsarchivs Ludwigsburg, da zuvor entschieden wurde, dass die Gerichtsakte auf Grund ihres Archivwürdigkeit aufzubewahren sei. Wenige Zeit später wurde die Akte in den Bestand E 323 II (Staatsanwaltschaft beim Landesgericht Stuttgart) eingegliedert und nach dem Delikt „widernatürliche Unzucht“ verzeichnet. Der Suchbegriff ist somit weiterhin an den Entstehungsprozess geknüpft.
Recherche im Archiv
Die Schutz- und Sperrfristen haben zudem Auswirkungen auf die Recherche. Unterlagen zur Homosexuellenverfolgung vor dem „Dritten Reich“ lassen sich größten Teils online recherchieren, sofern das Findbuch vom Archiv bereits retrokonvertiert wurde. Nach der Eingabe des Begriffs „widernatürliche Unzucht“ in die Datenbank auf der Homepage des Landesarchivs Bade-Württemberg wird man zahlreiche Treffer zu Gesicht bekommen. Der Benutzer muss sich allerdings darüber im Klaren sein, dass es sich dabei nur um einen Ausschnitt der für die Homosexuellenverfolgung relevanten Unterlagen handelt. Noch nicht retrokonvertierte und entsperrte Bestände werden nicht angezeigt.
Der Nutzer kann die angezeigten Akten per Mausklick einzeln bestellen und im Archiv einsehen. Auch eine Reproduktion (Scan) ist möglich. Über die Homepage des Landesarchivs Baden-Württemberg lassen sich über die Rubrik „Recherche und Bestellung“ weitere Hinweise zur Recherche im Online-Findmittel-System des Landesarchivs Baden-Württemberg finden. Findmittel, die noch nicht retrokonvertiert wurden, müssen im Archiv eingesehen werden. Die Findbücher können im Lesesaal nach Rücksprache eingesehen werden. Den Findmitteln kann in der Regel sowohl entnommen werden, um welche Behörde es sich im Einzelnen handelt als auch aus welchen Zeitraum das Archivgut stammt. Ein Findbuch einer Staatsanwaltschaft ist chronologisch sortiert. In dem Buch werden Delikte und Namen aller Angeklagten angezeigt, so dass neben Verbrechen nach § 175 auch Brandstiftung, Mord und Vergewaltigungen aufgelistet werden. Die Bestellsignatur der Akte findet der Benutzer ebenfalls angezeigt. In Frage kommende Akten können somit erst nach der systematischen Durchsicht eines Findbuchs bestellt werden. Nicht alle Akten zu § 175 handeln von einvernehmlichen Sex. Der Staat machte damals keinen Unterschied, ob es sich um Missbrauch, Vergewaltigung oder Liebe handelte. Erst der Blick auf die bestellte Akte verrät, welche Geschichte sich hinter der Signatur verbirgt.
Bei Archivalien aus der NS-Zeit und der Bunderepublik beginnt die Recherche in aller Regel erst im Archiv. Die Findmittel im Landesarchiv Baden-Württemberg sind dazu ebenfalls unterschiedlich. Die Spannbreite reicht von gut recherchierbaren Online-Datenbanken im Intranet bis hin zu kaum lesbaren Findbüchern und Ablieferungslisten. Die Findmittel können wegen der Schutz- und Sperrfristen ohne Rücksprache nicht eingesehen werden. Es muss daher erst um eine Verkürzung der Sperrfrist gebeten werden, um mit den Findbüchern und Online-Datenbanken arbeiten zu können. Der Antrag muss schriftlich erfolgen. Wird die Sperrfristverkürzung bewilligt, dürfen die Findmittel verwendet werden.
Reproduktion von Archivalien
Auch bei der Reproduktion gibt es bei gesperrten Archivalien eine Sonderregel. Bestellsignaturen sind immer nach dem gleichen Schema aufgebaut. Sie setzen sich aus der Bestandssignatur und der Nummerierung der einzelnen Archivalieneinheit zusammen. Ein Beispiel aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg wird die dahinterstehende Logik verdeutlichen: StAL (Staatsarchiv Ludwigsburg), F 302 I (Bestand Amtsgericht Suttgart), Bü 520 (Anlage gegen Herrn B. im Jahr 1925). Da die Akte aus der Weimarer Republik stammt, kann die Akte sowohl eingesehen als auch reproduziert werden. Akten aus der Bundesrepublik dürfen hingegen niemals selbst gescannt werden. Selbst bei einer Sperrfristverkürzung läuft die Reproduktion über das Archiv. Oftmals werden die Namen dann geschwärzt, um eine Identifikation der Person unmöglich zu machen. Auf der Kopie wird zudem darauf hingewiesen, dass die Kopie nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt ist. Die Weitergabe an Dritte wird untersagt.
Vorbereitung des Archivbesuchs
Vor jedem Archivbesuch empfiehlt es sich, die Homepage des jeweiligen Archivs aufzusuchen (Öffnungszeiten, Anfahrt, und Kontaktdaten). Als nächster Schritt liegt die Kontaktaufnahme per E-Mail nahe. Sofern das Forschungsanliegen erklärt wird, ist die Archivar*In gerne bereit, Hinweise zu möglichen Beständen und Suchstrategien mitzuteilen. Je präziser das Anliegen formuliert wird, desto wahrscheinlicher ist eine hilfreiche Antwort. Ein freundliches Auftreten gegenüber den Archivmitarbeitern empfiehlt sich von selbst, zumal manche Funde nur dank der tatkräftigen Unterstützung der Mitarbeiter des Landesarchivs möglich gemacht werden. Vor dem ersten Archivbesuch im Landesarchiv Baden-Württemberg benötigt man einen Benutzerausweis, der einem vor Ort innerhalb weniger Minuten ausgestellt wird. Erst mit dem Ausweis, darf sich der Nutzer dem Schicksal homosexuelle Männer nähern.[30]
Einschlägige Bestände (Auswahl)
Staatsarchiv Ludwigsburg
E 323 II (Staatsanwaltschaft beim Landgericht Stuttgart)
E 350 a (Landgericht Ulm)
E 356 d V, VI (Strafanstalt Ludwigsburg mit Zweiganstalt Hohenansperg)
E 356 g (Landesgefängnis Ulm)
EL 331 I (Strafanstalt Schwäbisch Hall)
EL 333 II (Landesstrafanstalt Hohenasperg)
EL 334 I (Vollzugsanstalt Ludwigsburg)
F 302 I (Amtsgericht Stuttgart)
FL 300/6 (Amtsgericht Brackenheim)
FL 300/29 (Amtsgericht Stuttgart)
Hauptstaatsarchiv Stuttgart
M 39 (27. Division)
M 79 (Stellvertretende 52. Infanterie-Brigade)
M 77/1 (Stellvertretendes Generalkommando XIII. A.K.):
Staatsarchiv Freiburg
F 175/1 (Staatsanwaltschaft Baden-Baden)
F 176/1 (Staatsanwaltschaft Freiburg)
A 40/1 (Staatsanwaltschaft Freiburg)
A 42/1 (Staatsanwaltschaft Konstanz)
A 43/1 (Staatsanwaltschaft Offenburg)
A 44/1 (Staatsanwaltschaft Waldshut)
G 701/2 (Justizvollzugsanstalt Freiburg, Gefangenenpersonalakten)
F 176/13 (Staatsanwaltschaft Freiburg, Ermittlungsakten)
F 176/19 (Staatsanwaltschaft Freiburg, Ermittlungsakten)
A 28/2 (Landgericht Waldshut)
F 178/1 (Staatsanwaltschaft Konstanz)
F 178/4 (Staatsanwaltschaft Konstanz, Ls)
F 178/4 (Staatsanwaltschaft Konstanz, Kls)
F 179/1 (Staatsanwaltschaft Offenburg)
F 179/11 (Staatsanwaltschaft Offenburg)
Generallandesarchiv Karlsruhe
507 Sondergericht Mannheim
309 Mannheim (Staatsanwaltschaft Mannheim)
309 Mosbach (Staatsanwaltschaft Mosbach)
309 Karlsruhe (Staatsanwaltschaft Karlsruhe)
309 (Staatsanwaltschaften)
509 (Gefängnis Pforzheim: Gefangenenpersonalakten)
520 Zugang 1981-51 (Justizvollzugsanstalt Karlsruhe)
Staatsarchiv Sigmaringen
Wü 28/1 T 2 (Landgericht Ravensburg: Strafprozesse der Strafkammer)
HO 400 T 2 (Staatsanwaltschaft Hechingen)
Wü 29/1 T 1-11 (Staatsanwaltschaft Ravensburg)
Wü 29/2 T 1 (Staatsanwaltschaft Rottweil)
Wü 29/3 T 1 (Staatsanwaltschaft Tübingen)
Wü 29/2 T 2 (Staatsanwaltschaft Rottweil)
Nützliche Literatur (Auswahl)
Sekundärliteratur zur strafrechtlichen Homosexuellenverfolgung nach § 175
- Ralf Bogen, Ausgrenzung und Verfolgung homosexueller Männer in Württemberg, in: Der Bürger im Staat. Homophobie und Sexismus, Heft 1, 2015, S. 36-43.
- Ralf Bogen: „Vorkämpfer im Kampfe um die Ausrottung der Homosexualität“, in: Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern, hg. v. Ingrid Bauz, Sigrid Brüggemann und Roland Maier, Stuttgart 2013, S. 305-320.
- Michael Buddrus, Lebenssituationen, polizeiliche Repression und justizielle Verfolgung von Homosexuellen in Mecklenburg 1932-1945. Überlegungen zu einem Forschungsprojekt, in: Homosexuelle im Nationalsozialismus, hg. v. Michael Schwartz, Oldenburg 2014, S. 115-120.
- Günter Grau, „Unschuldige Täter“. Mediziner als Vollstrecker der nationalsozialistischen Homosexuellenpolitik, in: Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Verdrängt und ungesühnt, hg. v. Jellonnek Burkhard u. Rüdiger Lautmann, Paderborn 2002, S. 209-235.
- Günter Grau (Hrsg.), Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933-1945. Institutionen – Kompetenzen – Betätigungsfelder, Berlin 2011.
- Günter Grau u. Claudia Schoppmann (Hrsg.), Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt a. M. 2004.
- Bernd-Ulrich Hergemöller, Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten, Tübingen 1999.
- Burkhard Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990.
- Rüdiger Lautmann, Willkür im Rechtsgewand. Strafverfolgung im NS-Staat, in: Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933-1945, hg. v. Michael Schwartz, Oldenburg 2014, S. 35-42.
- Andreas Pretzel, Vom Staatsfeind zum Volksfeind. Zur Radikalisierung der Homosexuellenverfolgung im Zusammenwirken von Polizei und Justiz, in: Homosexualität und Staatsräson. Männlichkeit. Homophobie und Politik in Deutschland 1900 – 1945, hg. v. Susanne zur Nieden, Frankfurt a.M. 2005, S. 217–252.
- Andreas Pretzel, Homosexuellenpolitik in der frühen Bundesrepublik (Queer Lectures 8), Hamburg 2010.
- William Schaefer, Schicksale männlicher Opfer des § 175 StGB in Südbaden 1933-1945, in: Zeitschrift des Breisgauer Geschichtsvereins Schau-ins-Land, 128 (2009), S. 145-170.
Sekundärliteratur zum Archiv
- Martin Burkhardt, Arbeiten im Archiv. Praktischer Leitfaden für Historiker und andere Nutzer, Paderborn 2006.
- Marcel Lepper u. Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektive, Stuttgart 2016.
- Maria Würfel, Erlebniswelt Archiv. Eine archivpädagogische Handreichung, Stuttgart 2000.
- Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs, Stuttgart ²2014.
- Gesetz über die Pflege und Nutzung von Archivgut (Landesarchivgesetz – LArchG) vom 27. Juli 1987, geändert durch Gesetz vom 12. März 1990 und vom 1. Juli 2004, zitiert nach: http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/LArchG.pdf