Transsexualität, Transgender und Intersexualität – eine besondere Herausforderung  für die Betrachtung von Geschichte

Kim Schicklang und Christina Schieferdecker

Geschlechterdefinitionen üben einen Einfluss darauf aus, welche Geschichte sichtbar wird. Das macht die Erforschung des Lebens der Menschen, die wir heute als transsexuelle Menschen, Transgender-Personen (Trans*Menschen) oder Menschen mit Intersexualität kennen, schwierig. Es ist eine Binsenweisheit, dass derjenige, der die Sprache bestimmt, auch das Denken kontrolliert. Diskussionen um Deutungshoheit und Definitionsmacht waren schon immer ein Teil des feministischen Kampfes um Gleichberechtigung der Geschlechter. Dass man nicht als Frau geboren, sondern zur Frau gemacht werde, ist ein Gedanke den wir Simone de Beauvoir zu verdanken haben (1), die kurz nach dem 2. Weltkrieg in „Das andere Geschlecht“ ausführlich beschrieb, wie Gleichberechtigung mit der eigenen Geschichte beginnt und das Lösen von Fremddefinitionen der Beginn der Emanzipation darstellt. Das Sichtbar-Machen von verborgenen Teilen der Geschichte bedeutet, die Geschichte von einseitigen Deutungen zu befreien.

 

Magnus Hirschfeld – Geschlecht ist mehr als Genitalien

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Bildquelle: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität 1904, Editor Magnus Hirschfeld, Publisher Max Spohr, Leipzig

Heute existieren noch immer geschlechtliche Definitionen, in denen Gender (das soziale Geschlecht, was auch immer das sein soll) und Sexus (das körperliche Geschlecht, was auch immer das sein soll) künstlich unterschieden und dann doch wieder vermischt werden. Inkonsequenterweise wird dann das „eigentliche“ Geschlecht eines Menschen doch wieder auf die Genitalien reduziert (die dann dem kompletten biologischen Körper gleichgesetzt werden, so als wäre das Sein des Menschen in den Genitalien beheimatet). Bei näherer Betrachtung handelt es sich um Definitionen, die mehr der gewollten geschlechtlichen Machtkonstellation innerhalb von Gesellschaften entsprechen, als biologischen Grundlagen.

Doch woher kommt das, diese Genitalienfixiertheit? Dass uns letzten Endes unsere Genitalien ausmachen würden und nicht unser Gehirn, kann man vielleicht auf Sigmund Freund zurückführen und die psychoanalytische Lehre, machen doch laut ihr Penisneid und Ödipus-Komplex letzten Endes unser Ich aus. Noch in den 1920er bis in die frühen 1930er Jahre bezweifelte man diese These. Vor allem Magnus Hirschfeld und den Mitarbeitern seines sexualwissenschaftlichen Instituts war es in dieser Zeit zu verdanken, dass Transvestitismus (wozu er auch Transsexualismus, Transgender, u.a. zählte), Intersexualismus und Homosexualismus als „sexuelle Zwischenstufen“ galten, die angeboren und nicht veränder- oder in irgendeiner Form heilbar sind (u.a. Hirschfeld 1928). Doch diese Lehre stieß bei überzeugten Nationalsozialisten und Psychoanalytikern auf wenig Freude. Dass ihre Ideologien sich wenig unterschieden wurde rasch klar und so wurden die psychoanalytischen Strömungen (die freudsche, jungsche und adlersche Lehre) zur Deutschen Psychologie zusammengefasst (im Göring Institut beheimatetet) und nur noch diese durfte im Nationalsozialismus gelehrt werden (Cocks 2012).

Jede Form von Wissenschaft – vor allem in der Sexualforschung – fand somit ihr jähes Ende, die Bücher von Magnus Hirschfeld und anderen wurden verbrannt.

 

Der braune Geist der Sexualwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

Der braune Zeitgeist übertrug sich auch auf die Sexualwissenschaft der Nachkriegszeit. So gründete in Westdeutschland der Nationalsozialist und Heidegger-Anhänger Hans Giese, der sich selbst zu seiner Homosexualität bekannte, gemeinsam mit dem Hamburger Ordinarius für Psychiatrie Hans Bürger-Prinz, gleichfalls NSDAP-Mitglied und Richter am Erbgesundheitsgericht, 1950 die „Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung“ als Sammelbecken vormaliger Nationalsozialisten, die sich zu Fragen der menschlichen Sexualität äußern wollten (Mildenberger 2008, Seite 100).

Da Ärzte und Psychotherapeuten nach dem Kriege eine Entnazifizierung wenig befürchten mussten, brauchte man sie doch in großem Maße um die Opfer des Krieges zu versorgen, wurde die nationalsozialistisch-psychoanalytische Sexualideologie zur bestimmenden Geschlechtsideologie in Deutschland. Bürger-Prinz und Giese waren Herausgeber der erstmals im Jahr 1952 erschienenen „Beiträge zur Sexualforschung“ und wurden erst 1990 wegen ihrer NS-Vergangenheit aus dem Titelblatt genommen.

Bis heute herrscht in großen Teilen der Sexualforschung eine geschlechtliche Anschauung, die nicht vorsieht, dass Menschen ein gesundes Wissen über ihr Geschlecht und ihre körperlichen Variationen haben können. Die Verkürzung des angeblichen „biologischen Geschlechts“ auf Genitalien führt seit Jahrzehnten dazu, dass Menschen mit oder ohne Intersex-Diagnose geschlechtlich als das angesehen werden, was sie zwischen den Beinen haben und ihnen eine Variation ihrer sozialen geschlechtlichen Identifizierung unterstellt wird, wenn sie sich über ihr Geschlecht abweichend zu ihren Genitalien äußern. Aus Frauen mit Variationen des Körpers wurden beispielsweise Männer oder Zwitter, die sich „wie Frauen fühlen“, aber denen aberkannt wird, Frauen zu sein.

 

John Money – Erfinder der Geschlechtsidentität

Dieses Ideologiegebäude wurde in den 1960er bzw. 1970er Jahren durch einen Psychologen aus Amerika Namens John Money fortgeführt und konkretisiert. Money beschäftigte sich mit „Hermaphroditismus“ und wunderte sich darüber, dass manche Menschen mit uneindeutigen Genitalien äusserten, „Frau“ zu sein und andere sich selbst als „Mann“ ansahen. Er erfand den Begriff der „Gender Identity“, um sich die Aussagen der Menschen, mit denen er zu tun hatte, zu erklären. Wie sich jemand geschlechtlich begreift, so seine These, sei nur ein Ergebnis der Einordnung in einen gesellschaftlichen Kontext, in welchem Geschlecht sozial konstruiert wird (über soziale Codes wie Kleidung, Verhalten, etc.). Unabhängig davon, dass solche Identifizierungsprozesse tatsächlich behauptet werden können und für sozialwissenschaftliche Fragestellungen Begriffe wie „ Gender Identität“ hilfreich sein können, wenn wir uns z.B. mit sozialen Rollen beschäftigen, besteht der Hauptfehler der Ideen Moneys darin, Geschlecht auf das soziale Geschlecht zu reduzieren. Diese Idee mündete in einem folgenschweren Experiment.

Er behauptete, das Unmögliche geschafft zu haben, nämlich durch reine Erziehung aus einem Jungen ein Mädchen gemacht zu haben. Die Erziehung bestimme stärker als die Natur, ob ein Mensch ein Mann oder eine Frau werde, war daraufhin die weit verbreitete Lehre und der berühmte Satz von Simone de Beauvoir wurde pervertiert. Aus der Kritik Beauvoirs, soziales Geschlecht in Frage zu stellen, wurde eine Aufforderung, das soziale Geschlecht als das maßgebliche anzusehen.
Daran änderte sich auch nichts, als 1997 Milton Diamond und Keith Sigmundson den Schwindel John Moneys aufdeckten (2) und die BBC eine ausführliche Dokumentation dazu lieferte (3). Dass diese Dokumentation in Deutschland geringe Beachtung fand, kein Aufschrei durchs Land ging, Anhänger John Moneys, wie Alice Schwarzer, ihre Theorien nicht widerriefen (4) und die dazu veröffentlichte Literatur nicht auf Deutsch übersetzt wurde (u.a. Colapinto 2000), kann bedauert werden, aber die Lobby gegen diese Veröffentlichungen war zu stark.

 

Der gefilterte Blick auf das Gestern

Möchte man Forschung betreiben und nach Zeugnissen von Menschen mit Transsexualität suchen, so stößt man unweigerlich auf das Problem, dass dies kaum möglich ist. In den letzten 80 Jahren haben Nationalsozialismus, Psychoanalyse, vereint mit der Lehre John Moneys, transsexuelle Frauen als geisteskranke Männer und transsexuelle Männer als geisteskranke Frauen dargestellt, die lediglich falsch erzogen wurden. Es ist kaum möglich, in Archiven nach Transsexualismus oder Transgendern zu suchen. Auch in Archiven hat man sich wenig bemüht, bestimmte Schlagworte, die für diese Suche notwendig wären, zu hinterlegen, da – entsprechend der Ideologie der Zeit – Menschen mit Transsexualität als nicht erwähnenswert, bzw. ihre Existenz als zweifelhaft galt (waren sie doch nur weitere Geisteskranke).

Wenn „geschlechtliche Vielfalt“ das meinen soll, was drauf steht – nämlich die Deutungshoheit über Geschlecht den Menschen selbst zu überlassen – dann braucht es auch im Umgang mit der Geschichte geschlechtlicher Vielfalt eine erhöhte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Selbstaussagen von Menschen. Da diese bisher fehlte, gibt es in Archiven nur wenige Informationen sowohl über Menschen mit abweichenden körperlichen Merkmalen, als auch Menschen, die andere Rollen wahrnahmen (oder sind unter diesen Inhalten nicht zu finden). Während die Forschung zu Transgender und Intersexualität bereits große Lücken aufweist, so ist die geschichtliche Aufarbeitung von Transsexualität heute so gut wie nicht vorhanden. Zu stark sind die Einflüsse gesellschaftlicher und kultureller Vorstellungen von Geschlecht, so dass emanzipatorische Ansätze, die vermeintliches Wissen als gesellschaftlich gemacht in Frage stellen, gerne als Angriff auf eine bestehende geschlechtliche Ordnung gewertet werden können.

Berücksichtig werden muss, dass nicht nur das Rollenverhalten gesellschaftlich entstanden ist, sondern auch die Vorstellung darüber, was als biologisches Geschlecht zu gelten hat. Die Frage „was ist es?“ nach der Geburt eines Kindes mit „ein Junge“ und „ein Mädchen“ zu beantworten spiegelt daher mehr die Vorstellung des Mediziners wieder, dessen Vorstellung von Geschlecht – genauso wie die Vorstellung der Eltern eines Kindes – Ergebnis kultureller stereotyper Normen ist. Menschen, deren Körper nicht der herrschenden Norm entspricht, bekommen ihr geschlechtliches Brandzeichen, analog dessen sich dann später in der Regel die Interpretation und Bewertung der geschlechtlichen Selbstaussage durch Dritte vollzieht. Forscher, die sich mit der Geschichte geschlechtlicher Abweichungen auseinandersetzen, welche diese Zuschreibungsmechanismen nicht berücksichtigen, unterliegen der Gefahr, unreflektiert gesellschaftliche Deutungsmuster über Geschlecht zu übernehmen und unbemerkt geschlechtliche Stereotypen zu reproduzieren.

Emanzipatorische Ansätze der geschichtlichen Aufarbeitung von Geschlecht – und damit auch die Aufarbeitung des Missbrauchs von Menschen mit geschlechtlichen Variationen durch Mediziner – werden nicht von ungefähr meist von den Gruppen in Deutschland verhindert, die von jeher die Deutungshoheit über Geschlecht für sich beanspruchen: den Medizinern und Psychiatern.

 

Das Ernstnehmen der geschlechtlichen Selbstaussage ist Teil emanzipativer Geschichtsarbeit

bildquelle_jahrbuch-fuer-sexuelle-zwischenstufen-mit-besonderer-beruecksichtigung-der-homosexualitaet-1904-editor-magnus-hirschfeld-publisher-max-spohr-leipzig
Bildquelle: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität 1902, Editor Magnus Hirschfeld, Publisher Max Spohr, Leipzig

Ausgehend einer genitalistischen Logik spricht die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung in den Jahrzehnten (und ihre Vertreter noch heute) von einer psychischen Angelegenheit, wenn Frauen, die mit vermännlichten Körpermerkmalen geboren wurden, sich zu ihrem Geschlecht äußern. Eine psychiatrische Diagnose, wie eine „Gender Dysphorie“, die noch heute vergeben wird, wenn Menschen unter ihrer körperlichen Variation leiden und medizinische Hilfe suchen, ist vor allem ein deutlicher Hinweisgeber darauf, wie sich die sogenannte „Sexualwissenschaft“ teils heute noch Geschlecht vorstellt. „Das Kind hat einen Penis, also ist es kein Mädchen“ äußerte ein Kinderpsychiater aus Frankfurt, als er danach gefragt wurde, ob es Mädchen mit vermännlichten Körpermerkmalen gibt. Eine Frau mit „Gender-Dysphorie“ ist dieser Lesart nach ein Mann, der mit seinem sozialen Geschlecht hadert; die geschlechtliche Selbstaussage dieser Frau wird der geschlechtlichen Zuschreibung, die sich anhand gesellschaftlicher Vorstellungen über körperliche Zustände orientiert, untergeordnet. Die Vorstellung, die sich darin zeigt, lässt sich in etwa wie folgt beschreiben: Frauen, deren Körper vermännlicht sind, sollen keine Frauen sein. Frei nach der Aussage von Simone de Beauvoir wird man nicht nur zur Frau, sondern auch zur Nicht-Frau gemacht. Dabei hat die biologische wissenschaftliche Geschlechterforschung die Lehre Magnus Hirschfelds bereits lange bestätigt (Schieferdecker 2016), was gut verdrängt werden kann und auch verdrängt wird (5), um ein bestimmtes politisch gewolltes Geschlechterbild aufrecht zu erhalten.

Konkret bedeutet das im Zusammenhang mit der geschichtlichen Aufarbeitung von medizinischem und gesellschaftlichem Missbrauch an Menschen, die körperlich nicht der Norm entsprechen, einen erhöhten Aufwand, erst einmal überlieferte Berichte von der Überwucherung mit geschlechtlicher Deutung zu befreien. Wenn beispielsweise Frauen mit vermännlichtem Körper als feminine Männer aufgeführt sind, braucht es bei der Erforschung das Durchhaltevermögen, solange auf eine geschlechtliche Zuschreibung zu verzichten, bis eine Klarheit über das geschlechtliche Selbstverständnis der erforschten Personen existiert.

Eine Forschung, welche die Selbstsicht von Menschen, die nicht gesellschaftlich gemachten Geschlechtervorstellungen entsprechen, ernst nimmt, berücksichtigt das Wissen um kulturell gemachte geschlechtliche Deutungshoheiten in der Geschlechterforschung. Die Selbstaussage von Menschen sollte dabei im Mittelpunkt stehen.

 


Quellen
(1) genauere Übersetzung: „Frau ist man nicht durch Geburt, man wird es“, „On ne naît pas femme, on le devient.“ (de Beauvoir 1949, S. 33)
(2) http://hawaii.edu/PCSS/biblio/articles/1961to1999/1997-sex-reassignment.html (abgerufen 21.08.2016)
(3) http://www.bbc.co.uk/sn/tvradio/programmes/horizon/dr_money_prog_summary.shtml (zuletzt abgerufen 22.08.2016)
(4) Im Gegenteil, man rüstete zum Kampf und wahre Hassartikel, die transsexuellen Menschen ihr Geschlecht absprechen, wurden in der Zeitschrift EMMA veröffentlicht, wie: http://www.emma.de/artikel/was-macht-uns-zu-frauen-332467 (zuletzt abgerufen 22.08.2016)
(5) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2015, S. 24
Literaturangaben
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. 2015. “Geschlechtliche Vielfalt. Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Trans- und Intergeschlechtlichkeiten. Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- & Transsexualität.” http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Geschlechtliche-Vielfalt,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf.
Cocks, Geoffrey. 2012. “Psychotherapy in the Third Reich.” Jung Journal: Culture & Psyche 6 (4): 25–30. doi:10.1525/jung.2012.6.4.25.
Colapinto, John. 2000. As Nature Made Him: The Boy Who Was Raised as a Girl. New York: HarperCollins Publishers.
de Beauvoir, Simone. 1949. Le Deuxième Sexe. Paris: Gallimard.
Hirschfeld, Magnus. 1928. Geschlechtskunde auf Grund dreissigjähriger Forschung und Erfahrung. Folgen und Folgerungen. Vol. 2. 5 vols. Stuttgart: Julius Püttmann.
Mildenberger, Florian. 2008. “Der Diskurs über männliche Homosexualität in der deutschen Medizin von 1880 bis heute.” In Normal – anders – krank?: Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin.
Schieferdecker, Christina. 2016. Was ist Geschlecht? Versuch einer Beantwortung mit Hilfe biologischer Forschung zu Transsexualität. 1. Auflage. Norderstedt: Books on Demand.

 

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