Zukunft braucht Erinnerung
Leben in Würde und Respekt
Die Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung in Baden und Württemberg vor 1933 zeigt, dass Rückschläge möglich sind. Längst überwunden geglaubte Vorurteile und Diskriminierungen wie das NS-Stereotyp homosexueller Männer als “Kinderschänder” und “Jugendverführer” kamen beispielsweise bei Demonstrationen der Bildungsplangegner im Jahr 2014 wieder ans Tageslicht. Dabei wurde wieder einmal ein besonderer Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie konstruiert und einer sogenannten “Homo-Lobby” demagogisch unterstellt, “Pornounterricht für unsere Kinder” zu fördern.
Hauptquellen der Homophobie überwinden
Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, an das Unrecht der NS- und Nachkriegsverfolgung homosexueller Männer zu erinnern und die Hauptquellen der Homophobie zu überwinden: das starre Festhalten an traditionellen patriarchalischen Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Strukturen sowie das wortwörtliche rigide Befolgen religiöser Texte.
Es sind nicht wenige Repräsentanten der Katholischen Kirche, evangelikaler Gruppen und islamischer Verbände, die noch heute eine vollständige Gleichberechtigung von Frauen ablehnen sowie gelebte Homosexualität immer noch als „widernatürlich“ und „abnormal“ diskreditieren. Damit stärken sie einen gefährlichen ideologischen Nährboden für radikalere Formen der Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zur Gewalt. In vielen Ländern Europas und auch in den USA bauen rechtspopulistische und neonazistische Kräfte darauf auf, gefährden so demokratische Grund- und Menschenrechte und versuchen Homophobie sowie rückwärtsgewandte Geschlechterrollen und Familienbilder wieder salonfähig zu machen.
Ein Leben in Würde und Respekt führen können
Aus dem Memorandum von acht homosexuellen Überlebenden, welches 50 Jahre nach dem Ende der NS-Schreckensherrschaft am 28. Mai 1995 veröffentlicht wurde:
“Vor 50 Jahren wurden wir von den alliierten Truppen aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit. Aber die Welt, auf die wir gehofft hatten, wurde nicht wahr. Wir mussten uns wiederum verstecken und wurden erneuter Verfolgung ausgesetzt. (…) Einige von uns – gerade aus den Lagern befreit – wurden erneut zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. (…)
Heute sind wir zu alt und zu müde, um für die Anerkennung des an uns begangenen Unrechts zu kämpfen. Viele von uns wagten es nie, darüber zu sprechen. Viele von uns starben allein mit den qualvollen Erinnerungen. Wir haben lange, aber vergeblich auf eine deutliche politische und finanzielle Geste der deutschen Regierung und deutscher Gerichte gewartet. Unsere Verfolgung wird heute an Schulen und Universitäten kaum erwähnt. Selbst in […] Gedenkstätten werden wir als verfolgte Gruppe manchmal nicht einmal genannt.
Heute, 50 Jahre später, wenden wir uns an die junge Generation und an alle, die sich nicht von Hass und Vorurteilen leiten lassen wollen. Helfen Sie mit, sich mit uns zusammen gegen eine noch immer von Vorurteilen geprägte und unvollständige Erinnerung der nationalsozialistischen Verfolgung von Homosexuellen zu wehren. Lassen Sie uns das an Juden, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas, Freimaurern, Behinderten, polnischen wie russischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen und vielen anderen begangene Unrecht nie vergessen. Lassen Sie uns aus der Geschichte lernen und die jüngere Generation von homosexuellen Frauen und Männern, Mädchen und Jungen dabei unterstützen, ihr Leben im Gegensatz zu uns in Würde und Respekt zusammen mit ihren Partnern, Freunden und Familien führen zu können. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft.”
Quelle:
(1) Zitiert nach Klaus Müller: “Totgeschlagen, totgeschwiegen? Das autobiographische Zeugnis homosexueller Überlebender”. In Jellonek/Lautmann (Hrsg.): “Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle”, Paderborn 2002, S. 416.