„Lange haben die katholische und die evangelische Kirche alle Lebensformen jenseits der Heteronormativität verurteilt und LGBTQI* in christlicher Lehre wie kirchlicher Praxis marginalisiert und diskriminiert. Momentan vollzieht sich jedoch ein vorsichtiger Umbruch. In dieser Situation wollen wir (…) einen Beitrag zu den Diskussionen um eine weitere Öffnung leisten“ – so hieß es in der Einladung zur Tagung „Queere Menschen und die Kirchen“. Zu ihr hatte die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Kooperation mit mehreren Partnerorganisationen (1) am 21. bis 23. November 2024 in ihr Tagungszentrum Hohenheim eingeladen.

Der besondere Reiz dieser Tagung zeigte sich für mich in drei Aspekten:

  • von unmittelbar Beteiligten der Aktion „#OutinChurch – für eine Kirche ohne Angst“ in 2022 zu erfahren, was diese Aktion ausgelöst hat;
  • im vielfältigen Spektrum der Vortragenden und Teilnehmenden;
  • in der mutigen Bereitschaft der Tagung damit zu beginnen, sich mit der schmerzhaften Rolle der Amtskirchen in der Aidskrise der 1980er Jahren auseinanderzusetzen.

Spürbare Nachwehen der Aktion „#OutinChurch“

Ohne den Hintergrund der Aktion „#OutinChurch“ wären viele Vorträge, wenn nicht gar die gesamte Tagung für mich so nicht vorstellbar gewesen. Daher möchte ich zunächst diese Aktion in Erinnerung rufen. 125 Personen erklärten am 24. Januar 2022 ihr gemeinsames Coming Out im Manifest „#OutinChurch – Für eine Kirche ohne Angst“, das mit folgender Selbstdarstellung begann: „Wir, das sind hauptamtliche, ehrenamtliche, potentielle und ehemalige Mitarbeiter*innen der römisch-katholischen Kirche. (…) Wir identifizieren uns unter anderem als lesbisch, schwul, bi, trans*, inter, queer und non-binär. (…) Die meisten von uns haben mannigfach Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung gemacht – auch in der Kirche.“ Das Manifest bezog unmissverständlich Stellung für rund 90.000 Beschäftigte der katholischen Kirche und 700.000 Beschäftigte bei deren Wohlfahrtsverband Caritas (insgesamt arbeiten in Deutschland rund 1,3 Millionen Personen für Kirchen und ihre Einrichtungen): „Bisher können viele von uns in ihrem kirchlichen Beruf oder Umfeld mit ihrer geschlechtlichen Identität und/oder mit ihrer sexuellen Orientierung nicht offen umgehen. Es drohen arbeitsrechtliche Konsequenzen bis hin zur Zerstörung der beruflichen Existenz. […] Damit ist ein System des Verschweigens, der Doppelmoral und der Unaufrichtigkeit etabliert worden.“
Bei der Tagung zeigten sich für mich die Nachwehen dieser Aktion insbesondere in den Vorträgen „Geschichte der Queerpastoral in der katholischen Kirche“ von Andreas Heek (Düsseldorf), „Pfarrerin mit Frau – eine (un)mögliche Geschichte“ von Sibylle Biermann-Rau (Tübingen – hier im Bezug auf die evangelische Landeskirche in Württemberg), „Queere Lebensgeschichten im Dialog“ von Kerstin Söderblom und Josephine Haas (Mainz), „Ungehorsam!“ von Jana Kristin Hoffmann (Bielfeld – hier in Bezug auf die Methodistische Kirche in den USA), „Beheimatung lesbischer Frauen in der alt-katholischen Kirche“ von Ella Detscher (Freiburg) und nicht zuletzt im Vortrag „Queere Menschen in den Kirchen“ von Jens Ehebrecht-Zumsande (Hamburg), einem der Initiatoren von #OutInChurch. [Zu „Queere Lebensgeschichten im Dialog“ siehe hierzu auch den Beitrag von Reinhard Brandhorst, Pfarrer i. R., über 20 Jahre Pfarrer der Leonhardsgemeinde Stuttgart und Initiator der alljährlichen Stuttgarter CSD- und Welt-AIDS-Tag-Gottesdienste bei der Veranstaltung „Religiös begründete Abwertungen als Nährboden für Hass und Gewalt gegen queere Menschen“ vom 13.7.2024 im Erinnerungsort Hotel Silber.] Das Verbindende bei all diesen Vorträgen war für mich, dass queere Menschen in den Kirchen sich nicht mehr verstecken, sondern sich generationsübergreifend gegenseitig helfen und ermutigen, die Stimme zu erheben und sichtbar(er) zu werden, damit sich in Kirchen endlich nicht mehr queere Menschen, sondern ihre Peiniger und Unterdrücker wegen ihrer diskriminierenden Worte und Taten schämen.

Jens Ehebrecht-Zumsande (links), einer der Initiatoren von #OutInChurch:

Vielfältiges Spektrum der Vortragenden und Teilnehmenden

Im Programm (2) der Tagung mit den drei Sektionen „Historische Perspektive“, „Theologische Auseinandersetzungen“ und „Lebenswelten und Handlungsräume“ kam ein vielfältiges Spektrum der Vortragenden und Teilnehmenden zum Ausdruck. Die Tagung hat Historiker:innen wie Theolog:innen, Haupt- und Ehrenamtlichen im kirchlichen Raum, Religionslehrer:innen, Kirchenarchivar:innen, Studierenden und nicht zuletzt Vertreter:innen queerer Kirchengruppen und Initiativen wie unserem Projekt „Der-Liebe-wegen.org“ im nichtkirchlichen Bereich die Möglichkeit zum Austausch geboten.
Auch die Sichtbarwerdung von trans* und inter*Personen und generell der Vielfältigkeit geschlechtlichen Seins wurde während der Tagung insbesondere durch die Vorträge „Denkstile und Anerkennung – der Diskurs um trans* und inter* Personen in Recht und Kirche“ von Mara Klein und Lea Quaing (Münster), „Doing Systematics am Beispiel der Transgeschlechtlichkeit“ von Theodor Adam (Hannover), „Your stories matter – Biografien von trans*Personen als Anstoß pastoraltheologischer Reflexion“ von Stephanie Bayer (Luzern) deutlich. Dazu trug auch Klaus-Peter Lüdkes (Altenberg) bei der Schlussdiskussion bei, der Vater eins transidenten Sohnes und Autor des Buches „Jesus liebt trans“ ist.

Mutige Bereitschaft damit zu beginnen, sich mit der schmerzhaften Rolle der Amtskirchen in der Aidskrise der 1980er Jahren auseinanderzusetzen

Als jemand, den die Aidskrise der 1980er Jahre maßgeblich geprägt hat, begrüße ich die mutige Bereitschaft der Tagung damit zu beginnen, sich mit der schmerzhaften Rolle der Amtskirchen in der Aidskrise der 1980er Jahren auseinanderzusetzen. Bei Beerdigungen wurden damals oftmals die Lebens- und Liebenspartner der Verstorbenen und ihr Leid durch kirchliche Vertreter nicht anerkannt. Hier zeigte sich die große politische und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Kirchen auf die Lebenswelten queerer und auch heterosexueller Menschen, die keine der kirchlichen Norm entsprechendes Beziehungs- und Liebesleben führten, unabhängig davon, ob sich die Menschen selbst nun als religiös oder nicht religiös verstehen oder verstanden haben. Im Vortrag „Kirche, Katholizismus und HIV/Aids in den 1980er Jahren“ von Elisabeth Wittkowski (Bochum) wurde deutlich, wie die katholische Kirche zunächst eine Kondombenutzung strikt ablehnte und schwulen Männern generell und weltfremd sexuelle Enthaltsamkeit empfahl.

Bereits im ersten Vortrag der Tagung mit dem Titel „Gleichgeschlechtliches Begehren und die Grenzen des Erlaubten – Verschiebungen, Wandlungen, Wendepunkte von der Antike bis zur Gegenwart“ ging von Klaus van Eickels (Bamberg) auf den wichtigen Wendepunkt „Die Aids-Krise in den 1980er Jahren“ ein (siehe Abbildung). Vorwiegend schwule Männer gründeten in Deutschland die Aidshilfen. Nicht wenige waren mit dem zu frühen Tod von Freunden konfrontiert oder mussten gar ihren Partner bis zum Tod begleiten. Dies trug eher im Verborgenen mit dazu bei, dass die beiden Amtskirchen zunehmend in Schwierigkeiten gerieten, schwule Männer und Beziehungen nur auf Sex und einen sündhaften Lebensstil zu reduzieren und gleichzeitig gleichgeschlechtliche Partnerschaften weiterhin strikt zu missbilligen. An dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs erlaubt, dass ich gerne – nicht nur im Kontext der Tagung – an Mitarbeitende der Kirchen erinnern möchte, die vorurteilsfrei und empathisch in der Aidskrise für männerliebende Männer und ihre Angehörige gekämpft und sich eingesetzt haben. In Stuttgart waren dies zum Beispiel Gerd Brunnert und Petrus Ceelen. Gerd Brunnert hatte die erste konfessionelle Aidsberatungsstelle Deutschlands bei der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart und die Angehörigentreffen im Waldschlösschen ins Leben gerufen. Petrus Ceelen war im Auftrag der Diözese Rottenburg als Seelsorger für HIV-Infizierte und AIDS-Kranke im Großraum Stuttgart engagiert – eine Stelle, die ebenso auf sein eigenes Betreiben hin in Stuttgart erst geschaffen wurde.

Podium und Schlussdiskussion und die Frage nach Perspektiven

Bei der Schlussdiskussion, die von der Theologin und Sozialethikerin Ursula Wollasch moderiert wurde, wurde durch die Beiträge von Sibylle Biermann-Rau, Jens Ehebrecht-Zumsande, Andreas Heek und Klaus-Peter Lüdke und weiteren Tagungsteilnehmenden deutlich, welch Fortschritte bereits erreicht wurden, aber auch welch langer Weg bis zu einer selbstverständlichen Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Kirche und Gesellschaft noch vor uns liegt. Dafür sei es weiterhin wichtig, sich gegenseitig Mut zu machen. Für queere Menschen in und außerhalb Kirche gelte: „Das Private ist politisch und das Politische ist Privat“. Die queerfeindlichen Kräfte in den Kirchen seien nicht geschichtsbewusst und würden Selbstreflexion und Begegnung auf Augenhöhe meiden. Die historische Perspektive hätte eine enorme befreiende Wirkung und gelte es für Queerfreundlichkeit zu nützen. Queere (Lebens-)Geschichten, die die Menschen erzählen, konnten viele Jahre nicht erzählt werden. Das hat sich deutlich verändert. Hier sei der generationsübergreifende Austausch von großer Bedeutung für gegenseitiges Verständnis. Die derzeit schizophrene Situation innerhalb der katholischen Kirche brachte Jens Ehebrecht-Zumsande mit dem Spruch „Als Kirchenmitarbeiter eine Bereicherung, als Katholik ein Sünder“ (siehe Abbildung aus dem Vortrag „Queere Menschen in den Kirchen“) eindrucksvoll auf den Punkt. Die Frage wurde aufgeworfen, ob diese kaum ertragbare Situation nicht Anlass für neue bundesweite Aktionen durch „#OutinChurch“ werden sollte. Aktivist:innen von „#OutinChurch“ wollten sich in nächster Zeit jetzt jedoch erst Mal mehr um sich selbst kümmern und sich auch gut mit außerkirchlichen queeren Organisationen vernetzen. „Kraft tanken„, „sich gegenseitig besser kennenlernen und Zeit füreinander nehmen“ und „vorsichtig den eigenen Weg weitergehen“ wurde als wichtige Quintessenz und einer der aufgezeigten Perspektiven der Tagung in der Schlussdiskussion sichtbar.

Ralf Bogen


(1) Partnerorganisationen waren Evangelische Akademie Bad Boll, LSVD+ Verband Queere Vielfalt, LSBTTIQ in Baden und Württemberg – das Forschungsprojekt der Abteilung Neuere Geschichte von der Universität Stuttgart, Katholische Erwachsenbildung Diözese Rottenburg Stuttgart e.V., Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und das Studienzentrum der EKD für Genderfragen.

(2) Programm der Tagung:

Donnerstag, 21. November 2024
14:00 Uhr, Begrüßung und Einführung
Sektion 1: Historische Perspektiven
14:30 Uhr: Gleichgeschlechtliches Begehren und die Grenzen des Erlaubten
Verschiebungen, Wandlungen, Wendepunkte von der Antike bis zur Gegenwart
Klaus van Eickels, Bamberg
15:15 Uhr: Gesetz, Moral und gesellschaftlicher Wandel. Die katholische Kirche, der Paragraph 175 und das Thema Homosexualität, 1969–1994. Ein Projektbericht
Alina Potempa & Frank Kleinehagenbrock, Bonn
16:00 Uhr Kaffeepause
16:30 Uhr Kirche, Katholizismus und HIV/Aids in den 1980er Jahren
Elisabeth Wittkowski, Bochum
17:15 Uhr Geschichte der Queerpastoral in der katholischen Kirche
Andreas Heek, Düsseldorf
18:00 Uhr Abendessen
19:30 Uhr Pfarrerin mit Frau – eine (un)mögliche Geschichte. Buchvorstellung mit Lesung
Sibylle Biermann-Rau, Tübingen
Kennenlernen und Austausch in der Denkbar

Freitag, 22. November 2024
08:00 Uhr Frühstück. Morgenimpuls
Sektion 1: Historische Perspektiven (Fortsetzung)
09:00 Uhr (K)ein Segen unterm Regenbogen? Das kirchliche Ringen um die Deutungshoheit im Kampf um die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland
Sabine Exner-Krikorian, München
09:45 Uhr Queere Lebensgeschichten im Dialog. Ein intergenerationaler Austausch im Horizont von queerer Biographie und queerer Theologie
Kerstin Söderblom & Josephine Haas, Mainz
10:30 Uhr Kaffeepause
Sektion 2: Theologische Auseinandersetzungen
11:00 Uhr Die queere Frau am Kreuz? Legenden und Kult um die heilige Kümmernis
Judith Reinders, Bonn
11:45 Uhr Denkstile und Anerkennung. Der Diskurs um trans* und inter* Personen in Recht und Kirche
Mara Klein & Lea Quaing, Münster
12:30 Uhr Mittagessen
14:30 Uhr Doing Systematics am Beispiel der Transgeschlechtlichkeit
Theodor Adam, Hannover
15:15 Uhr Homosexualität als Sodomie, Verbrechen und Krankheit. Die Begründung der Verurteilung von Homosexualität in der katholischen Lehre
Johanna Voithofer, Salzburg
16:00 Uhr Kaffeepause
Sektion 3: Lebenswelten und Handlungsräume
16:30 Uhr Queere Menschen in den Kirchen. Ressourcen einer radikalen Diversität offenlegen und verteidigen
Jens Ehebrecht-Zumsande, Hamburg
17:15 Uhr Ungehorsam! Queeres Leben in der Methodistischen Kirche in den USA
Jana Kristin Hoffmann, Bielefeld
18:00 Uhr Abendessen
19:30 Uhr Posterpräsentationen. „Your stories matter.“ Biografien von trans* Personen als Anstoß
pastoraltheologischer Reflexion
Stephanie Bayer, Luzern
Schulen im Fokus christlicher Initiativen mit Anti-Gender-Agenda. Möglichkeitsräume queerer Vielfalt im evangelischen Religionsunterricht
Marvin Gärtner, Bonn
Die Liebe, eine einigende Kraft. Sprache und Gender in liturgischen Texten der Alt-Katholischen Kirche
Nathalie Schuler, Bonn
Tagesausklang in der Denkbar

Samstag, 23. November 2024
08:00 Uhr Frühstück Morgenimpuls
Sektion 3: Lebenswelten und Handlungsräume (Fortsetzung)
09:00 Uhr „Konversionsbehandlungen“. Konturierungen eines komplexen Forschungsfeldes
Klemens Ketelhut, Heidelberg
09:45 Uhr Beheimatung lesbischer Frauen in der alt-katholischen Kirche
Ella Detscher, Freiburg
10:30 Uhr Kaffeepause
11:00 Uhr Fluchtlinien, Möglichkeitsräume, Perspektiven. Podium und Schlussdiskussion.
Sibylle Biermann-Rau, Tübingen; Jens Ehebrecht-Zumsande, Hamburg; Andreas Heek, Düsseldorf;
Klaus-Peter Lüdke, Altensteig; Moderation: Ursula Wollasch

12:30 Uhr Mittagessen und Tagungsende