29.03.2021: NS-Kriterien der Verfolgung beim Gedenken überwinden
In der Berliner Zeitung online ist am 29. März 2021 und in der Printausgabe am 7. April 2021 ein Beitrag von Hanno Hauenstein „Von Schwulen und Nazis zwischen Opfermythos und historischer Präzision“ erschienen, der ein Streitgespräch zwischen Dr. Lutz van Dijk und Dr. Alexander Zinn wiedergibt. Alexander Zinn sieht als Hauptproblem, dass „die Aufarbeitung der Verfolgung Homosexueller zur NS-Zeit für die queere Community ‚identitätsbildend'“ sei – „teils jedoch gegen die historische Faktenlage“. Eine positive Verklärung der Rosa-Winkel-Häftlinge will er festgestellt haben, die Kindesmißbrauch und Jugendverführung nicht angemessen berücksichtigt. Lesbische Frauen seien nicht wegen ihrer Homosexualität verfolgt worden. Demgegenüber warnt Lutz van Dijk in der Bewertung der Faktenlage allein mit NS-Kriterien zu operieren. Er ist ein Befürworter des Mahmals für lesbische Frauen in der Gedenkstätte Ravensbrück, die dort gelitten haben – „nicht, weil sie als lesbische Frauen verurteilt wurden, sondern weil ihr Leid unsichtbar gemacht wurde.“
Zu dieser Kontroverse bringen wir im Folgenden ungekürzt einen Leserbrief, der am 12. April 2021 in der Berliner Zeitung leicht gekürzt veröffentlicht wurde:
29. März 2021: Was für eine historische Forschung und Gedenkkultur wollen und brauchen wir?
Die historische Forschung hat jahrzehntelang sexuelle und geschlechtliche Minderheiten nicht als Opfer des NS- und Nachkriegsunrechts angemessen anerkannt und konkret erforscht. Sie hat sich stattdessen von patriarchalischen Vorurteilen gegenüber Homo-, Trans- und Intersexualität leiten lassen, die der NS-Staat zwar nicht erfunden, aber wesentlich verstärkt hat und die bis heute subtil weiterwirken. Leider trägt Zinn im Streitgespräch teilweise zur Bestärkung dieser Vorurteile bei:
Bezogen auf seine Leipziger Studie sagt Zinn, „dass ungefähr drei Viertel derjenigen, die im KZ mit einem rosa Winkel als Homosexuelle gekennzeichnet wurden, wegen Jugendverführung oder Kindesmissbrauch vorbestraft waren.“ Daraus können wir lernen, dass Rosa-Winkel-Häftlinge nicht per se gedenkwürdig sind und dass wir sehr genau hinschauen müssen. Vor dem Hintergrund, dass der NS-Staat homosexuelle Männer per se als „Kinderschänder“ stigmatisierte und bekämpfte, sehe ich das Hauptproblem bei Zinn darin, dass er mit dieser Aussage jegliche Differenzierung zwischen heute wie damals strafbaren Kindesmissbrauch einerseits und heute nicht strafbarer „Jugendverführung“ (im Grundsatz ist das Schutzalter heute 14 Jahre – unabhängig von der sexuellen Orientierung – bei wenigen Ausnahmen in Sonderfällen) andererseits vermissen lässt. Damit ersetzt Zinn eine von ihm kritisierte positive Verklärung in der Erinnerung an die homosexuellen NS-Opfer durch eine negative Verklärung, womit er seinem hohen Anspruch auf historische Präzision selbst nicht gerecht wird. Hingegen nennen wir in unserer, im Internet unter www.der-liebe-wegen.org veröffentlichten Studie zur heutigen Region Baden-Württemberg folgende Kriterien für die Anerkennung als homosexuelle NS-Opfer: „Insofern uns Informationen vorliegen oder noch zugänglich werden, wonach Personen auch Vergehen gemäß 174 Ziffer 1 (sexuelle Handlungen mit Minderjährigen unter Missbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen), gemäß 175 a Ziffer 1 (Gewalt und Nötigung) und gemäß § 176 (sexuelle Handlungen mit Kindern) begangen haben, haben wir diese nicht in unsere Gedenkkarte aufgenommen bzw. werden wir diese herausnehmen.“ Letzteres war bei einer von 251 Personen der Fall.
Mit dem Hinweis, dass KZ-Einweisungen nicht primär oder gar nicht aufgrund weiblicher Homosexualität erfolgten, wird seit Jahrzehnten das durch die NS-Diktatur verursachte spezifische Leid lesbischer Frauen übersehen oder gar wie mit dem von Zinn selbst als polemisch überspitzt bezeichneten Vergleich der Situation von Raucherinnen mit der von lesbischen Frauen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bagatellisiert. Auch hier stimme ich van Dijk zu, der die historische Forschung und die Gedenkkultur dazu anregen möchte, das NS-spezifische Unrecht gegenüber lesbischen Frauen stärker als bislang in den Blick zu nehmen. Das ist in dem von van Dijk mit herausgegebenen Sammelband „Erinnern in Auschwitz – auch an sexuelle Minderheiten“ mit wertvollen neuen Forschungsergebnissen beispielhaft gelungen.
Mit der Erstarkung rechtspopulistischer Kräfte in Deutschland geht die Zunahme von Hass und Hetze in verschiedenen Internetforen einher. Homo- und Transsexualität ist nach wie vor ein wichtiger Fluchtgrund angesichts von Gewalt und Verfolgung in vielen Ländern. Daher ist Zinn entschieden zu widersprechen, wenn er die Aufgabe, auf eine bessere Gesellschaft hinzuwirken, nur bei der Gedenkarbeit und nicht auch bei der historischen Forschung sieht. Das von van Dijk vertretene Anliegen eines angemessenen Erinnerns an das Leid sexueller und geschlechtlicher Minderheiten während der NS-Diktatur im Deutschen Bundestag am Auschwitzgedenktag ist wichtiger denn je.
Ralf Bogen, Stuttgart