2021: Ergebnisse im Rahmen des Forschungsprojekts der Universität Stuttgart von Julia Noah Munier
Anfang 2021 ist Julia Noah Muniers Arbeit „Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert“ als Buch erschienen. Diese Studie ist, wie es im Geleitwort heißt, die erste von drei Teilen des Forschungsprojekts des Instituts für Neuere Geschichte der Universität Stuttgart.
In drei übergeordnete Kapitel gegliedert, enthält die Arbeit von Munier viele Details zu den Schicksalen und Lebenswelten von homosexuellen Männern aus Baden und Württemberg während der Weimarer Republik (S. 43-135), während der NS-Diktatur (S. 136-290) und während der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit (S. 291-399). Dabei sind insbesondere dargestellte Zeugnisse brisant, welche die homosexuellen Männer nicht nur als Opfer von Diskriminierung und Verfolgung, sondern auch als sich selbst behauptende Akteure beschreiben. Als Beispiel hierfür seien die Besuche von Silvester- und Karnevalfeiern in der Schweiz genannt, wo unter anderem Alfred Jenny, der Protokollant des „Schweizerischen Freundschafts-Verbandes“ wie folgt zitiert wird (S. 286): „Es möchte uns ja wohl schon bekannt sein, dass denselben Artgenossen speziell in Deutschland alles unterbunden ist, sie freuten sich deshalb zehnfach, unter uns Schweizern wenn auch nur kurze Zeit ein paar frohe und angstfreie Stunden geniessen zu können“ (es ging hier um die Silvesterfeier 1933/34). Weiter wird beschrieben, wie homosexuellen Männern von ihren „Artgenossen“ zur Flucht in die Schweiz geholfen wurde. Aus dem Kapitel zur Nachkriegszeit geht die wichtige Rolle von Aktivist:innen aus unserer Region für die Liberalisierung des §175 StGb hervor (siehe hierzu auch den Bericht über die Fachtagung zur LSBTTIQ-Geschichte „Zukunft braucht Erinnerung“ im Hotel Silber).
Wir freuen uns darüber, dass Munier zur Rolle außerinstitutioneller Initiativen und zu unserer Webseite „Der Liebe wegen“ in der Einleitung schreibt: „Die vorliegende Untersuchung profitiert erheblich davon, dass zivilgesellschaftliche Akteure in Baden-Württemberg seit den 1980er Jahren in Eigeninitiative Material zusammentrugen und für die Verfolgung Homosexueller im NS-Regime gesellschaftlich sensibilisierten. (…) Zugleich knüpft diese Studie an wichtige regionale und lokale außerinstitutionelle Arbeiten zur Verfolgung homosexueller Männer nach §175 (R)StGB in Baden und Württemberg an (…) Besonders hervorzuheben ist das (…) Bildungs- und Aufklärungsprojekt ‚Der Liebe wegen‘.“ (S. 11ff)
Konkret heißt es beispielsweise zum quantitativen Ausmaß der Verfolgung während der NS-Zeit in Muniers Arbeit: „Schätzungen Rainer Hoffschildts zufolge wurden in den Jahren 1933 bis 1939 in den OLG-Bezirken Stuttgart und Karlsruhe über 900 Personen nach §175, §175a RStGB verurteilt. (…) Reichsweit wurden ca. 5-10% der nach §175, §175a RStGB verurteilten Männer in Konzentrationslager verbracht. 90-95% der homosexuellen Männer wurden zur Strafverbüßung in Justizanstalten untergebracht. Diese Zahlen sind auch für Baden und Württemberg anzunehmen. Gestützt auf neuere Forschungen des Geschichtsprojektes „Der-Liebe-wegen“ konnte hier gezeigt werden, dass homosexuelle Männer mit Bezug zur Region des heutigen Baden-Württemberg u. a. vermehrt in die Emslandlager, in das Lager Rodgau Dieburg, in das KZ Natzweiler und das KZ Dachau deportiert wurden.“ (S. 406/407)
Muniers umfassende Darstellung stellt einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zur Aufarbeitung staatlicher Verfolgung homosexueller Menschen dar und leistet durch den Einbezug von Selbstzeugnissen und von Lebenswelten in ländlichen Räumen wertvolle Impulse für die weitere Forschung.
Ralf Bogen