2021/2022: Forschungsprojekt der Universitäten Heidelberg und Freiburg zu lesbischen Lebenswelten zwischen 1920 und 1970
Erst seit 2021 arbeiten Wissenschaftlerinnen der Universitäten Heidelberg und Freiburg an einem interdisziplinären Forschungsprojekt zu lesbischen Lebenswelten zwischen 1920 und 1970 im deutschen Südwesten, geleitet von Prof. Dr. Katja Patzel-Mattern, Frau Prof. Dr. Karen Nolte sowie Prof. Dr. Sylvia Paletschek. „Lange Zeit sind Forschungsarbeiten mit Fokus zur Geschichte weiblicher Homosexualität außerhalb der Universitäten und Akademien entstanden und waren Ergebnisse von Privatinitiativen innerhalb der autonomen Frauenforschung“, so Ute Reisner von der Themengruppe Geschichte des Landesnetzwerk LSBTTIQ Baden -Württemberg in einem Beitrag „Wissenschaftlerinnen erforschen Geschichte lesbischer Frauen in Baden-Württemberg“ der badischen Neuesten Nachrichten. Insbesondere das Netzwerk setzte sich erfolgreich dafür ein, dass nun endlich finanzielle Mittel zur Erforschung des Lebens lesbischer Frauen zur Verfügung gestellt wurden.
Beklagenswerter Quellenmangel kein Zufall
Ressentiments und Repressionen gegenüber weiblicher Homosexualität, als auch Verschweigen und Verdrängen lesbischen Lebens aus der Öffentlichkeit werden im Forschungsprojekt als Ursachen genannt, die im Vergleich zur Aufarbeitung der Verfolgung schwuler Männer unter dem Paragraphen175, zur mangelnden und offiziell spät startenden Aufarbeitung lesbischer Geschichte führten. Einhergehend mit der Verbannung lesbischer Frauen aus dem öffentlichen Raum ist ein beklagenswerter Quellenmangel zu verzeichnen. Dennoch so das erklärte Ziel der am Projekt beteiligten Forscherinnen, soll dieser Mangel nicht länger den immer noch herrschenden Status Quo rechtfertigen, diesem Forschungsbereich die notwendigen finanziellen Mittel weiter zu entsagen.
Fragen des Forschungsprojekts
So gehen nun Wissenschaftlerinnen der Universitäten Heidelberg und Freiburg folgenden Fragen nach:
- Wie lebten Frauen, die Frauen begehrten, in den Jahren zwischen 1920 und 1970?
- Auf welche Hindernisse und Diskriminierungen stießen sie insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus und welche Nachwirkungen hatten diese Verfolgungen und Ausgrenzungen in der Zeit nach 1945?
- Konnte es gelingen, innerhalb der von Politik, Recht, Gesellschaft und Wissenschaft gesetzten Normen nicht-normative Lebensentwürfe zu realisieren?
Erste Befunde
Aufgrund des Verschweigens und der Unsichtbarmachung lesbischen Lebens in der Geschichte, so ein erster Befund, muss in einer intersektionalen Herangehensweise die Geschichte lesbischen Lebens aufgespürt und erforscht werden. Frau Prof. Sylvia Palatschek verdeutlicht dies am Beispiel der Verfolgung lesbischer Frauen in der NS-Zeit. Frauen wurde nicht aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt und in Konzentrationslagern interniert, sondern wurden des unzüchtigen Verhaltens oder fehlender Sittlichkeit bezichtigt und als asozial oder kriminell betitelt und strafrechtlich verfolgt. Sie unterlagen vielfältigen Diskriminierungsformen. Lesbisch-Sein verschränkte sich mit NS-typischen Verfolgungskategorien, so Frau Prof. Palatschek weiter. Daher waren Lesben von rassehygienischen, poilitischen, antisemitischen und gegen nonkonforme Lebensweisen ausgerichteten Repressionen betroffen. Frau Prof. Karen Nolte verweist darauf, dass in den Quellen das Wort lesbisch, oder zeitgenössisch die Begriffe „invertiert“ und „konträrsexuell“ in der Regel nicht explizit zu finden sind. Bei der Untersuchung muss daher genauer hingesehen werden, um dort lesbisches Leben ausfindig zu machen. Mit diesem auf Intersektionalität ausgerichteten Blick beschäftigen sich die Forscherinnen des Projekts mit Quellen der sogenannten Kameradschaftsehe, mit Strafprozessakten, mit KZ-Akten und den darin enthaltenen, unterschiedlichsten Verfolgungstatbeständen, sowie mit Psychatrie-, Fürsorge- und auch Scheidungsprozessakten.
Ankündigung: „Der Liebe wegen“ wird nachfragen, welche weitere Erkenntnisse im Rahmen des Forschungsprojekts gewonnen werden konnten und wie es mit dem Projekt und dessen Finanzierung in 2023 weitergeht.
Kerstin Bosse und Christel Stroh
Quellen / Zum Weiterlesen:
- https://mwk.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/land-unterstuetzt-forschungsprojekt-zum-leben-lesbischer-frauen/
- https://www.uni-heidelberg.de/de/newsroom/lesbische-lebenswelten-zwischen-1920-und-1970
- https://www.paletschek.uni-freiburg.de/nachrichten/projektstart-lesbische-lebenswelten-im-deutschen-suedwesten-ca-1920er-1970er-jahre
- https://bnn.de/nachrichten/baden-wuerttemberg/wissenschaftlerinnen-erforschen-geschichte-lesbischer-frauen-in-baden-wuerttemberg
Das Blog-Portal-Hypothestes
Folgende aktuelle Texte zum Forschungsprojekt „Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er-1970er Jahre)“ sind bislang beim Blog-Portal Hypotheses unter https://lesbenwelt.hypotheses.org/ veröffentlicht:
- Mai 2021: Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten 1920–1970 – Blog des interdisziplinären Forschungspojekts zur Geschichte weiblicher Homosexualität – Ute Reisner (Redaktion)
- Juni 2021: Begriffe – Die richtige Sprache finden – Steff Kunz, Mirijam Schmidt und Muriel Lorenz (wissenschaftliche Mitarbeiter*innen)
- August 2021: Wer war die „anonyme Frau“? Projektvorstellung „Akteurinnen* – Vernetzungen – Kommunikationsräume“ – Muriel Lorenz (Universität Freiburg)
„Wenn nun alle Frauen so denken würden…“. Der schmale Grad zwischen „alter Jungfer“ und „Nymphomanie I“ Teil I Weiblichkeitsnorm – Steff Kunz (Institut für Medizingeschichte, Heidelberg) - September 2021: Teil II Sexualität und Ehe – Steff Kunz
- November 2021: Die „Single Ladies“ der frühen BRD – Teil I – I Zwei Werke – eine Analyse – Mirijam Schmidt (Historisches Seminar der Universität Heidelberg)
Dr. Maria Plum – von der unerwünschten Jurastudentin zur ersten Ehrensenatorin der Universität Freiburg – Akteurinnen* – Vernetzungen – Muriel Lorenz (Universität Freiburg) - Dezember 2021: Die „Single Ladies“ der frühen BRD – Teil II – II Die Auswirkungen des „Primats der Ehe“ auf die soziale und intime Situation von ledigen Frauen – Mirijam Schmidt
- März 2022: Das verborgene Leben der Eleonore Behar – Eine frauenliebende Holocaustüberlebende aus Stuttgart – Gastbeitrag von Anna Hájková, Associate Professor of Modern Continental European History an der Universität Warwick
- September 2022: Theo-Anna Sprüngli (1880-1953), besser bekannt als „Anna Rüling“. – Berühmte Berliner Rednerin, Kulturjournalistin, Ulmer Schauspielleiterin und Theaterdramaturgin
– Gastbeitrag von Prof. Dr. Christiane Leidinger, Professorin für Soziologie mit besonderem Schwerpunkt Geschlechtersoziologie an der Hochschule Düsseldorf - Oktober 2022: Wieso Alexander Zinns Definition von „Verfolgung“ für Lesben* zu kurz greift. – Eine Erörterung am Beispiel der im KZ-Ravensbrück inhaftierten Margarete Rosenberg – Exkursionsbericht von Alexa Korossy-Julius, Studierende an der Universität Heidelberg. Alexa Korossy-Julius ist tätig in der Arbeitsgruppe Frauenzeitschriften.
- November 2022: Zwischen männlicher Erwartungshaltung und weiblicher Selbstbestimmung – Studierendenbeitrag von Janine Dengler, Studierende an der Universität Heidelberg. Janine Dengler ist tätig in der Arbeitsgruppe Psychatrieakten.