2022/2023: Inter- und transsexuelle Menschen schreiben auch im deutschen Südwesten Geschichte
Spätestens seit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist mittlerweile breiter Konsens, dass nicht alle Menschen heterosexuell sind und es eine Vielfalt von sexuellen Orientierungen gibt. Demgegenüber fehlt es noch in weiten Teilen der Gesellschaft an vergleichbarer Akzeptanz sowie an Verständnis gegenüber Menschen, die geschlechtlichen Minderheiten zugehören. Erst in den letzten Jahren konnten vereinzelt Fortschritte erzielt werden. Dafür sei als Beispiel der „Geschlechtseintrag divers“ genannt, der eine dritte rechtliche Option neben weiblich und männlich in Deutschland seit 2018 ermöglicht.
Nichtwissen und massive Diskriminierungen
Dass Menschen weder Mann noch Frau sind (intersexuell bzw. intergeschlechtlich oder nichtbinär) und/oder sich nicht oder nicht nur dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig wissen (transsexuell bzw. transgeschlechtlich), stößt noch auf viel Nichtwissen: „Beide Personengruppen erleben nach aktuellen Studien massive Diskriminierungen bis hin zu Gewalt in allen Lebensphasen (Kindheit bis fortgeschrittenem Lebensalter) und Lebensbereichen (Schule, Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen, Pflege etc.), die primär darauf zurückgeführt werden, dass ihre Existenz nicht bekannt ist, nicht anerkannt wird oder sie abwertend als psychisch oder physisch krank bzw. minderwertig bezeichnet und behandelt werden“ – heißt es in der 2016 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend herausgegebenen Broschüre „Situation von trans- und intersexuellen Menschen im Focus“ (siehe S. 10).
Das Leben von inter- und transsexuellen Menschen verbessern
Am 30. Juni 2022 veröffentlichte die Bundesregierung Eckpunkte eines neuen Gesetzes zur geschlechtlichen Selbstbestimmung von trans- und intersexuellen Menschen. Es soll das von vielen als pathologisierend und entwürdigend empfundene Transsexuellengesetz (TSG) ablösen. Die Änderung von Vornamen und Personenstand von trans und nichtbinären Menschen soll künftig als einfacher Verwaltungsakt möglich sein. Zwei psychologische Zwangsbegutachtungen im Rahmen eines zeit- und kostenintensiven Gerichtsverfahrens sollen entfallen. Bei diesen Zwangsbegutachtungen treffen bislang trans und nichtbinäre Personen zum einen auf Gutachter:innen, die wissen, dass diese Befragungen überflüssig sind und die Gutachten in mehr als 99% der Fälle der Selbstauskunft entsprechen. Zum anderen sitzen trans- und intersexuelle Personen auch immer wieder „Sachverständigen“ gegenüber, die meinen, die geschlechtliche Identität ließe sich mithilfe von intimen Fragen zu sexuellen Fantasien, Unterwäsche, Masturbationsverhalten und sonstigen sexuellen Praktiken klären. (1)
Frauen- und Transfeindlichkeit gleichermaßen überwinden!
In der aktuellen Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz wird leider von einer kleinen Gruppe ein Gegensatz zwischen Frauenrechten einerseits und den Rechten trans- und intersexueller Menschen andererseits konstruiert, statt gemeinsam danach zu schauen, beiden Anliegen gleichermaßen gerecht zu werden. Laut 25 Fraueninitiativen des FrauenAktionsBündnisses (FAB), darunter die Feministische Partei und mehrere Städtegruppen von Terre des Femmes, würde die Überprüfung von Gleichstellungspolitik, Quoten und Zielgrößen in Politik, Wirtschaft und Kultur durch das Selbstbestimmungsgesetz erschwert werden, da die zu fördernde Gruppe der Frauen nicht mehr eindeutig bestimmbar wäre. Hier wird ignoriert, dass dies nur gilt, wenn transsexuelle Frauen nicht als Frauen anerkannt werden.
Weiter behauptet das FrauenAktionsBündnis, dass jeder Mann, der angibt, sich als Frau zu identifizieren, durch dieses Gesetz legal Zutritt zu Frauenräumen und Frauentoiletten bekommen würde. Hier spielt die Vorstellung eine Rolle, dass die sexualisierte Gewalt, die von CIS-Männern ausgehen kann (CIS-Männer = Männer, die sich dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig wissen), gleichermaßen von transsexuellen Frauen ausgehen würde. Deren ebenfalls erhöhtes Risiko, Gewalt durch CIS-Männer zu erfahren, wird durch das FrauenAktionsBündnis ignoriert. Und darüber hinaus: welcher männliche (Sexual-)Straftäter würde extra seinen Geschlechtseintrag ändern, um eine Toilette oder Umkleide von Frauen zu betreten?
Missbrauch vorbeugen!
Was ich eher nachvollziehen kann, sind Sorgen darüber, dass das Selbstbestimmungsgesetz von Sexualstraftäter missbraucht werden könnte, indem sich diese unter dem Vorwand, sich als Frau zu identifizieren, in Frauengefängnisse verlegen lassen könnten, um dort erneut Sexualstraftaten zu begehen. Wie solch ein Missbrauch verhindert werden kann, dafür müssen Lösungen gefunden werden.
Geschlechtseintrag „aus einer Laune heraus“ ändern?
Länder mit einem Selbstbestimmungsgesetz berichten von keinem steilen Anstieg willkürlicher mehrmaliger Änderungen des Geschlechtseintrags. So gibt es in Argentinien, Malta, Dänemark, Luxemburg, Belgien, Irland, Portugal, Norwegen, Uruguay und der Schweiz eine Gesetzgebung, die die Grundrechte und Selbstbestimmung von transsexuellen Personen bei der Änderung des Geschlechtseintrags bereits respektiert. Das große „Geschlechterchaos“ ist dort nicht eingetreten. Mehrmalige Änderungen gehen gegen Null, selbst in Ländern, die bereits vor 10 Jahren ein Selbstbestimmungsgesetz eingeführt haben. Das zeigt: Transsexuelle Personen ändern den Geschlechtseintrag nicht „aus einer Laune heraus“. (1)
Transsexualität ist keine freie Entscheidung – Geschlecht ist nicht beliebig
Die Ursache, welches geschlechtliche Selbsterleben ein Mensch entwickelt, ob es den äußeren Geschlechtsmerkmalen entspricht oder nicht, ist bislang genauso wenig wissenschaftlich geklärt wie die Ursache, warum ein Mensch eine hetero-, bi- oder homosexuelle Orientierung entwickelt. Als wissenschaftlich geklärt gilt allerdings, dass es keine freie Entscheidung weder zur Transsexualität (geschlechtliches Selbsterleben bildet sich in der Regel weit vor der Pubertät im Kindesalter heraus) noch zur Homosexualität gibt (sexuelle Orientierung wird einem in der Regel erst in der Pubertät bewusst). Es gibt nur eine freie Entscheidung, wie Transsexualität (und eben auch Homosexualität) gelebt wird und wie wir mit der Jahrtausend alten Abwertung und Stigmatisierung von Menschen umgehen, die geschlechtlichen Minderheiten zugehören. Es gibt eine freie Entscheidung aller Menschen, damit aufzuhören, andere Menschen aufgrund ihres geschlechtlichen Seins auszugrenzen, abzuwerten und zu entwürdigen.
Selbstvertretung und Sichtbarkeit inter- und transsexueller Menschen
Es ist von enormer Bedeutung, wenn Geschichte und Geschichten von inter- und transsexuellen Menschen bei regionalen (Geschichts-)Projekten wie „Queer durch Tübingen“, „Queer im Leben – Geschichte und Gegenwart der Rhein-Neckar-Region„, „Sissy That Talk: Queer Life in the City – Frauen aus der Transcommunity“ oder auch beim Fotobuch „Charakterköpfe – Buntes Stuttgart“ sichtbar gemacht werden. Dies ist mit ein Grund dafür, dass wir vom „Der-Liebe-wegen“-Team zusammen mit der Themengruppe Geschichte vom Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg hohen Wert darauf legen, dass endlich die Universität Stuttgart mit der angekündigten und zugesagten Erforschung der Lebenssituation von Menschen, die geschlechtlichen Minderheiten zugehören, beginnt (siehe hierzu Pressemitteilung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst vom 18. März 2021).
Wir vom „Der-Liebe-wegen“-Team freuen uns, dass Janka Kluge ab nächstem Jahr Beiträge zum Thema für unsere Webseite zur Verfügung stellen möchte. Wir wünschen uns Beiträge weiterer inter- und/oder transsexueller Menschen aus unserer Region, die ihre Geschichte und Geschichten sichtbar machen wollen. Nehmt bitte gegebenenfalls Kontakt zu uns auf: kontakt@der-liebe-wegen.org.
Ralf Bogen