Zum Jahrestag der Reichspogromnacht 2024: eine Mut machende Kundgebung für Vielfalt, Demokratie und Menschenrechte
Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ organisierte Projekt 100 % Mensch anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht am Samstag, den 9. November 2024 auf dem Stuttgarter Schlossplatz die Kundgebung „9 x 11 Minuten Widerstand. Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte“. Gemeinsam mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD e.V.), dem Forum Kulturen, Janka Kluge (Journalistin), Stuttgart gegen rechts, ver.di Stuttgart, Mission TRANS* e.V., Omas gegen Rechts und unserem Projekt Der-Liebe-wegen.org sowie mit den Künstler:innen Shon Abram (Berlin), Josefin Feiler und Stine Marie Fischer von der Oper Stuttgart, die am Klavier von Shawn Chang begleitet wurden, wandte es sich „gegen Faschismus, Rassismus, Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Sexismus und alle weiteren Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (aus der Pressemitteilung von Projekt 100 % Mensch). Hervorragend und sehr lebendig wurde die Veranstaltung von Black owned Buisness Stuttgart moderiert.
Wir veröffentlichen an dieser Stelle Auszüge aus der Rede vom Projekt Der-Liebe-wegen.org:
Auf unserer Webseite „Der-Liebe-wegen – von Menschen im deutschen Südwesten, die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden“ zeigen wir detailliert die NS-Verbrechen an queeren Opfern in unserer Region. Insbesondere in Zeiten der Erstarkung rechtspopulistischer und neofaschistischer Kräfte halte ich es für wichtig, dafür zu sorgen, dass diese NS-Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten und dass der Faschismus nicht als „Vogelschiss der Geschichte“ verharmlost wird. (…)
Heute sind wir hier, um anlässlich der Reichspogromnacht vor 86 Jahren daran zu erinnern, was geschehen kann, wenn Hass und Hetze eine Gesellschaft vergiften, wenn Ausgrenzung, Abwertung und Entrechtung von Menschen und ganzer Menschengruppen hingenommen oder gar unterstützt werden.
Die Schreckensnacht vom 9. auf den 10. November 1938 waren von der NS-Diktatur organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Menschen jüdischen Glaubens bzw. mit jüdischer Zuschreibung im Deutschen Reich. Dabei wurden zwischen dem 7. und 13. November im ganzen Reichsgebiet mehrere hundert Menschen ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Um die 1400 Synagogen, „Bet“-Stuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und zerstört. Von der Synagoge in der Stuttgarter Innenstadt blieben nur noch die Mauern übrig. Ab dem 10. November folgten Deportationen jüdischer Menschen in Konzentrationslager. Mindestens 30.000 Menschen wurden interniert, Hunderte starben an den Folgen der mörderischen Haftbedingungen oder wurden hingerichtet. Diese Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung jüdischer Menschen in Deutschland hin zu ihrer systematischen Vertreibung und Unterdrückung. Im Rückblick waren sie eine Vorstufe zu dem drei Jahre später beginnenden Holocaust, der Vernichtung allen jüdischen Lebens.
13 Jahre zuvor, 1925, hatte Hitler bereits im ersten Band von „Mein Kampf“ seine Weltanschauung in bemerkenswerter Offenheit ausgebreitet: Sein rabiater Antisemitismus und Hass auf den Marxismus, auf Gewerkschaften, Liberalismus und Pazifismus kam ebenso deutlich zum Ausdruck wie seine Weltherrschaftspläne mit der Eroberung von neuem Lebensraum im Osten. Ernst genommen wurde das Buch jedoch kaum, wohl weil Mensch damals davon ausging, dass den Worten nicht unbedingt Taten folgen würden. Nach dem gescheiterten Putschversuch 1924 hatte Hitler eine weitgehend legale Strategie der Machtübernahme der völkischen Bewegung favorisiert. Viele Bürgerliche wie zum Beispiel der Reichstagsabgeordnete Theodor Heuss, der sich durchaus kritisch mit „Mein Kampf“ auseinandergesetzt hatte, vertrauten auf Hitlers neuem Legalismus und glaubten, Hitler werde sich durch das parlamentarische Verfahren bändigen lassen. Heute wissen wir alle, welch fataler Irrtum das war.
Heute geht es uns auch darum, wie wir anders als `33 einer weiteren Rechtsentwicklung und faschistischen Gefahr erfolgreich entgegenwirken können. Wie gefährlich die Situation heute bereits wieder geworden ist, möchte ich anhand von Auszügen aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Meiningen vom 26.09.2019 deutlich machen. In jenem Beschluss hat das Gericht anerkannt, dass nach der folgenden Argumentation Björn Höcke berechtigt als Faschist bezeichnet werden kann. Denn diese Argumentation sei nicht aus der Luft gegriffen, sondern beruhe auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage:
„Im Juli 2018 sei sein Buch mit dem Titel ‚Nie zweimal in denselben Fluss‘ (…) erschienen. (…) Dieses Buch bestätige insgesamt eine faschistische Agenda (…). Nach seiner Auffassung sei letztlich ein neuer Führer erforderlich, Teile der Bevölkerung sollten ausgeschlossen werden, insbesondere Migranten.
In rassistischer Diktion wettere er gegen den angeblich ‚bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch‘. (…) Bezogen auf die von ihm angestrebte Umwälzung stelle er fest, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen.
Er denke an einen ‚Aderlass‘. (…) Er trete für die Reinigung Deutschlands ein. Mit starkem Besen sollten eine ‚feste Hand‘ und ein ‚Zuchtmeister‘ den Saustall ausmisten. Bezogen auf den Hitler-Faschismus sei diese für ihn vor allem die ‚katastrophale Niederlage von 1945‘. (…) In Dresden habe er eine ‚erinnerungspolitische Wende um 180 Grad‘ gefordert, was heiße, die Zeit des Hitler-Faschismus positiv zu betrachten (…). Das Holocaust-Denkmal in Berlin bezeichne er als Schandmal.“
(Quelle: siehe https://openjur.de/u/2180513.html).
Soweit aus dem Beschluss von 2019.
Wie sich die faschistische Gefahr in Deutschland in den letzten Jahren drastisch verschärft hat, zeigt sich anhand der Entwicklung der AfD: 2017 hatte der damalige AfD-Bundesvorstand Höcke noch selbst mit Hitler verglichen und ihm in einem Antrag zum Parteiausschluss „eine Wesensverwandschaft mit dem Nationalsozialismus“ vorgeworfen (siehe https://www.tagesspiegel.de/politik/afd-spitze-vergleicht-hocke-mit-hitler-5495260.html). Dieses Parteiausschlussverfahren scheiterte. Dass stattdessen Höcke mittlerweile den Ton in der AfD angibt, wurde beim Bundesparteitag in Riesa 2022 deutlich. Im Gegensatz zu Alice Weidel war Höcke für die Streichung der Pseudogewerkschaft „Zentrum Automobil“ von der Unvereinbarkeitsliste der AfD, wofür 60% der Delegierten stimmten. Bei Zentrum Automobil ging und geht es um eine Betriebsgruppe, die 2009 im Mercedes-Werk in Stuttgart-Untertürkheim von Oliver Hilburger gegründete wurde. Hilburger war bereits seit 2006 ehrenamtlicher Arbeitsrichter sowie als Betriebsrat für die Christliche Gewerkschaft Metall tätig. Als von Antifaschisten seine Mitgliedschaft als Gitarrist in der Rechtsrock-Band „Noie Werte“ und seine Bezüge zur Terrororganisation Blood and Honours, zur NPD und zum neonazistischen III. Weg aufgedeckt wurde, verlor er 2007 per Gerichtsbeschluss sein Posten als Arbeitsrichter und wurde er aus der Christlichen Gewerkschaft Metall ausgeschlossen. Die Rechtsrock-Band „Noie Werte“ ist jene Band, mit deren Musik der NSU seine Bekennervideos bei den Morden an Migranten unterlegt hatte. „Ohne Zentrum Automobil sind wir nichts, und werden nicht durchbrechen!“ sagte Höcke beim AfD-Bundesparteitag 2022. Das zeigt, welche Bedeutung er dem Aufbau einer AfD-nahen spalterischen Pseudo-„Gewerkschaft“ mit dem Ziel der bundesweiten Ausbreitung in seiner Agenda beimisst.
Seit den Enthüllungen über ein Treffen in Potsdam im November 2023 wurde breit bekannt, dass unterschiedliche rechtspopulistische und neofaschistische Kräfte unter dem Begriff „Remigration“ planen, Millionen von Migrant:innen aus Deutschland zu vertreiben. Nach dem ehemaligen AfD-Vorstandsmitglied Maximilian Krah sei es in den nächsten zehn Jahren politisch und rechtlich nicht möglich, diese Menschen gegen ihren Willen auszuweisen. Was geschieht aber nach zehn Jahren, wenn es uns nicht gelingt, eine weitere Rechtsentwicklung zu verhindern? Müssen wir dann wie 1938 mit dem Übergang von der Diskriminierung zur systematischen Vertreibung und Unterdrückung von Migrant:innen rechnen?
Die gleichen Kräfte, die in Deutschland daran arbeiten, die Voraussetzungen für die angestrebte Vertreibung von Migrant:innen zu schaffen, bekämpfen auch alle Maßnahmen zum Schutz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Solche Maßnahmen werden als linksideologischen Angriff auf die traditionelle Familie und völlig absurd auch als Angriff auf das Wohl von Kindern und Frauen sowie verächtlich als „Regenbogenmist und Genderwahnsinn“ diffamiert. Trotz einer lesbischen Politikerin in führender Position bedeutet Familienförderung für die AfD, die Rechte von queeren Menschen wieder einzuschränken. Diese sollte uns alle wachrütteln!
Es liegt in der Verantwortung von jedem Einzelnen von uns, ob wir uns ihren rassistischen und queerfeindlichen Plänen widersetzen oder ob diese Kräfte durch Verharmlosung, Beschwichtigung und letzten Endes Legitimierung durch Übernahme ihrer Narrativen und Themen noch weiter gestärkt werden!
Wir brauchen eine viel bessere Vernetzung und einen intensiveren Austausch untereinander. Ermutigende Beispiele gilt es stärker bekannt zu machen. Wenn sich beispielsweise in einer Betriebsversammlung bei Mercedes Benz dutzende IG Metall Vertrauensleute während einer Rede des „Zentrums Automobil“ mit dem Banner „Kein Applaus für Nazis!“ auf die Bühne stellen und wenn es dann nach einer Rede von Hilburger keinerlei Beifall gibt, dann gilt unser Dank allen daran beteiligten Kolleg:innen!
Wir brauchen ein vielfältigeres Bündnis von Gewerkschaften und von Frauen-, Queeren-, Umwelt- und Antikriegsaktiven um dafür zu kämpfen, was die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist:innen seit ihrer Gründung nach 1945 fordert und was jetzt dringt erreicht werden muss: Nämlich, dass der 8. Mai endlich ein Feiertag in Deutschland wird, wo die breite Aufklärung der Jugend über die NS-Verbrechen und die Würdigung aller antifaschistischer Widerstandskämpfer:innen im Mittelpunkt steht!
Angesichts der rechten Bedrohung, Demagogie und Spaltungspolitik ist es wichtiger denn je, dass wir aus 1933 die richtigen Lehren ziehen und uns heute nicht mehr auseinanderdividieren lassen! Unsere Hauptgegner sind rechtspopulistische und neofaschistische Kräfte und jene, die sie im Hintergrund finanzieren. Wo der Hauptgegner steht, dürfen wir bei all unseren Meinungsdifferenzen und Schwierigkeiten im Umgang miteinander nicht aus dem Blick verlieren, NIE UND NIMMER!