Gleb Shafigullin, 25 Jahre alt, zuerst Automechaniker, später Verwaltungswirt, hat einen Bachelorabschluss im Bereich Public Management und war in Russland aufgrund seiner Aktivitäten für Menschenrechte ins Visier der Polizei gelangt. Heute lebt er in Deutschland, setzt sein Engagement hier fort und ist Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des Weissenburg e.V.

Hintergrundinformationen zur Situation in Russland – „Armee oder Gefängnis“: Wie seit dem Einmarsch Russland in die Ukraine sich die Lage der LGBTIQ-Community verschärft hat
Heute unvorstellbar: Einst war die Situation im heutigen Russland für homosexuelle Menschen wesentlich besser als in Deutschland. Während in Deutschland nach §175 homosexuelle Männer verfolgt wurden, waren nach der sozialistischen Oktoberrevolution 1917 die sowjetischen Gesetze bezüglich Ehe und Privatleben die weltweit fortschrittlichsten: Entkriminalisierung homosexueller Beziehungen, Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, Gleichstellung von unehelichen Kindern. Dr. Magnus Hirschfeld reiste 1926 nach Moskau und Leningrad als Gast der russischen Regierung und würdigte diese vorbildlichen Reformen. Dies sollte sich allerdings grundlegend 1934 ändern. Ohne breite Diskussion in Partei und Gesellschaft wurde die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität auf Anordnung Stalins in Abstimmung mit seinen Genossen im Politbüro des ZK der KP der UdSSR (B) und mit dem Verweis „streng geheim“ wieder eingeführt (die wichtigsten Dokumente hierzu siehe www.etuxx.com/diskussionen/foo400.php). Das entsprechende Strafgesetz, der Artikel 121, galt unverändert bis 1993. Doch mit dem Argument des Kinderschutzes wurde „homosexuelle Propaganda“ in der Öffentlichkeit in manchen Regionen Russlands spätestens seit 2006 weiterhin unter Verbot gestellt. Am 30. November 2021 hat der Oberste Gerichtshof Russlands die sogenannte “internationale LGBT-Bewegung” als extremistisch eingestuft und ihr jegliche Aktivitäten verboten. Beschuldigten drohen insbesondere Strafverfahren, die bis zu zwölf Jahren Gefängnis vorsehen. Bereits unmittelbar nach Verkündung des Gesetzes kam es zu ersten Razzien. Zusätzlich häufen sich Berichte über Erpressungen, Kündigungen, Drohungen und Angriffe, die die Betroffenen nicht anzeigen können. Hassgewalttaten gegen LSBTIQ* werden nicht aufgeklärt. Der öffentliche Raum wird von Hassreden gegen LSBTIQ* bestimmt. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat sich die Situation der queeren Community weiter verschärft. „Wer homosexuell ist, hat ein hohes Risiko, entweder in die Armee oder ins Gefängnis gesteckt zu werden“, sagte die Moskauerin Valentina Likhoshva laut einem Beitrag von Sven Christian Schulz, veröffentlicht beim Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 2.11.2022.

Warum hast Du für den geschäftsführenden Vorstand des Weissenburg e.V. kandidiert? Was hast Du Dir dazu vorgenommen?
Ich bin in die Weissenburg gelangt, weil ich über das Internet erfahren habe, dass es hier eine russisch-sprachige Queer-Gruppe gibt, die sich Russqueer nennt. Heute bin ich auch bei den Königskindern, einer der Jugendgruppen des Weissenburg e.V. Als der geschäftsführende Vorstand weitere Vorstandsmitglieder gesucht hat, habe ich mich gemeldet. In einer Zeit, in der queerfeindliche Bewegungen auch in Deutschland wieder an Stärke gewinnen, halte ich es für notwendig, dass wir als Community aktiv und sichtbar bleiben. Ich möchte meine politischen Erfahrungen einbringen, um unsere Strukturen zu stärken, uns auf mögliche schwierige Entwicklungen vorzubereiten und diejenigen zu unterstützen, die jetzt schon besonders verletzlich sind.

Du warst mit auf dem CSD in Pforzheim, wo Neonazigruppen zu einer Gegendemo aufgerufen hatten. Wie siehst Du die politische Entwicklung in Deutschland?
Ich habe erfahren, dass rechtsextreme Gruppen zu einer Gegendemonstration gegen den CSD in Pforzheim aufgerufen hatten. Gerade deshalb war es mir besonders wichtig, dort präsent zu sein und zu zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Ich sehe mit Sorge, dass sich die politische Lage in Deutschland seit mindestens zwei Wahlzyklen zunehmend verschärft. Die Neonazigruppe „Deutsche Störtrupp“ ist eine gefährliche, gewaltbereite Organisation (siehe hierzu auch: https://der-liebe-wegen.org/juni-2025-der-csd-ist-keine-provokation/). Sie ist nicht nur eine Bedrohung für queere Menschen, Migrant*innen und Geflüchtete, sondern letztlich für uns alle. Meine Erfahrungen in Russland haben mir gezeigt, dass wir uns nicht spalten lassen dürfen. Der CSD ist nicht nur eine Feier, sondern ein politisches Statement für unsere Rechte als queere Menschen. Noch haben wir die Möglichkeit, solchen bedrohlichen rechtsextremen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten – und wir sollten sie nutzen.

Hast Du Wünsche und Anregungen für unsere AG queere Erinnerungskultur – „Der-Liebe-wegen“?
Ich finde die Arbeit der AG Queere Erinnerungskultur – „Der-Liebe-wegen“ sehr wichtig und berührend. Erinnerungskultur ist nicht nur Rückblick, sondern auch ein aktiver Beitrag zur Gegenwart. Ich wünsche mir, dass wir weiterhin queere Geschichten sichtbar machen, die oft überhört werden und damit humane Zukunftsperspektiven stärken. Dies gibt Kraft, macht Mut und zeigt, dass Vielfalt immer Teil unserer Gesellschaft war und ist.

Vielen Dank für das Interview und Dir alles Gute, Gleb!

Das Interview führte Ralf Bogen

Der neue geschäftsführende Vorstand des Weissenburg e.V.: Stefan Willbold, Sven Tröndle, Sylvan Pfeiler, Leyla Jazz Ekinci, Alexander Jäschke, Gleb Shafigullin und Max Hanselmann (v. l. n. r., nach Dienstzeit – Quelle: https://www.zentrum-weissenburg.de/2025/04/23/mitgliederversammlung-sonntag-27-04-2025-um-15-uhr/ )