Samstag, 13. Juli 2024, 13.30 bis 17.30 Uhr: Öffentliche Tagung im Erinnerungsort Hotel Silber Stuttgart (Dorotheenstraße 10, U-Bahn-Haltestelle Charlottenplatz) anlässlich der Stuttgart Pride Kulturwoche 2024

Wir bitten um Anmeldung bis zum 11.07.2024 unter veranstaltungen-hs@hdgbw.de
zum Einladungsflyer

PROGRAMM
13.30 Uhr Ankommen
13.45 Uhr Begrüßung
14.00 Uhr Impuls 1: Die Frage nach den ideologischen Grundlagen der Ausgrenzung und Diskriminierung queerer Menschen während der NS- und Nachkriegszeit
Ralf Bogen, Projekt „Der-Liebe-wegen.org“
14.30 Uhr Impuls 2: Der lange Weg bis zur Bitte um Vergebung der evangelischen Kirche in Württemberg für das Unrecht, das von ihr an gleichgeschlechtlich orientierten Menschen begangen wurde
Reinhard Brandhorst, Pfarrer i. R., über 20 Jahre Pfarrer der Leonhardsgemeinde Stuttgart und Initiator der alljährlichen Stuttgarter CSD- und Welt-AIDS-Tag-Gottesdienste
15.00 Uhr Impuls 3: Die Kirche und der §175 StGB nach 1945
Dr. Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abteilung Neuere Zeitgeschichte, Forschungsprojekt „LSBTTIQ in Baden und Württemberg
15.30 Uhr Impuls 4: Wie der „Nie-wieder“-Auftrag besonders beim Thema religiös begründeter Abwertungen queerer Menschen Jugendliche aus muslimisch/migrantisch geprägten Familien erreichen kann
Olcay Miyanyedi, Religions- und Erziehungswissenschaftler, Forschung zu LSBTTIQ Jugendlichen mit Migrationsbiografie und einer der drei Schirmpersonen von Stuttgart Pride 2024
16.00 Uhr Kaffeepause
16.30 Uhr Podiumsdiskussion mit den Impulsgebenden – Was tun wir und was können wir zukünftig tun, um den Nährboden von Hass und Gewalt nachhaltig abzutragen?
Moderation: Brigitte Lösch, Vorsitzende der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber und Dr. Axel Schwaigert, MCC Gemeinde Stuttgart. Für den musikalischen Rahmen sorgt der Klarinettist Jürgen Klotz.
17.30 Uhr Ende der Veranstaltung

Impuls 1: Die Frage nach den ideologischen Grundlagen der Ausgrenzung und Diskriminierung queerer Menschen während der NS- und Nachkriegszeit
Ralf Bogen
NS- und Nachkriegstäter der Ausgrenzung und Diskriminierung von LSBTIQ-Menschen gab es nicht nur in Polizei und Justiz. Neben den Täter:innn in den Universitäten gab es diese auch in der evangelischen und katholischen Kirche, die gerade auch nach 1945 jahrzehntelang die ideologischen Grundlagen der Abwertung und Kriminalisierung queerer Menschen gesellschaftlich verankert haben. Auch die Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg hat in der Nachkriegszeit sehr lange noch sexuelle und geschlechtliche Minderheiten nicht als Opfer des NS- und Nachkriegsunrechts angemessen anerkannt, geschweige denn, eine vertiefte Auseinandersetzung mit den ideologischen Wurzeln dieses Unrechts geführt. Erst 2016 konnte in Kooperation unter anderem mit dem Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg durch die Fachtagung „Späte Aufarbeitung – Lebenswelten und Verfolgung von LSBTTIQ-Menschen im deutschen Südwesten“ ein grundsätzlich anderer Umgang mit dieser NS-Opfergruppe eingeleitet werden.

Impuls 2: Der lange Weg bis zur Bitte um Vergebung der evangelischen Kirche in Württemberg für das Unrecht, das von ihr an gleichgeschlechtlich orientierten Menschen begangen wurde
Reinhard Brandhorst
70 Jahre nach der Befreiung vom sogenannten Dritten Reich begann der Deutsche Evangelische Kirchentag 2015 in Stuttgart mit dem „Gedenken zu Beginn“ erstmals an die Ausgrenzung und Verfolgung gleichgeschlechtlich Liebender zu erinnern. „Die Kirchen, auch unsere Württembergische Ev. Landeskirche, traten weder in der Zeit des Nationalsozialismus noch in der Nachkriegszeit eindeutig und klar für homosexuelle Menschen und gegen ihre Verfolgung und Ermordung ein. Gegen die Herabwürdigung und Verachtung von Homosexuellen durch weite Teile der christlichen Kirchen gab es im sog. Dritten Reich lediglich Einzelaktionen von wenigen Christen“, so begründete 2017 der Erstunterzeichner Dr. Harald Kretschmer den Antrag an die 15. Evangelische Landessynode in Württemberg, gleichgeschlechtlich orientierten Menschen um Vergebung zu bitten. 2019 hat der damalige Bischof Dr. h. c. Frank Otfried July in einer Andacht vor der Sommersynode die Bitte um Vergebung ausgesprochen. Zu Beginn des Vortrags wird ein kurzer Videoausschnitt der Vergebungsbitte gezeigt.
Reinhard Brandhorst, seit 1972 engagiert in schwulen Emanzipationsgruppen, vernetzt mit dem Bündnis Kirche und Queer (BKQ) und verheiratet mit Jürgen Klotz, wird aus seiner persönlichen Sicht berichten, wie er den Weg bis zur Vergebungsbitte erlebt hat und was er sich heute von Kirche und Gesellschaft in Bezug auf die Aufarbeitung des genannten Unrechts wünscht.

Impuls 3: Die Kirche und der §175 StGB nach 1945
Dr. Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle
In der Bundesrepublik Deutschland war noch bis Ende der 1960er Jahre jede Form von männlicher Homosexualität kriminalisiert. Trotz Kritik hielt die Politik am vom Nationalsozialismus übernommenen §175 StGB fest. Das insgesamt restriktive Sexualstrafrecht der Bundesrepublik hatte Auswirkungen auf die Lebenswelten Vieler – betroffen waren homo- und bisexuelle Männer wie Frauen, Personen, die geschlechtlichen Minderheiten zugehörten und selbst Heterosexuelle, die kein der Norm entsprechendes Beziehungs- und Liebesleben führten. Diese reformfeindliche Haltung der Politik war mitunter bestimmt und fundiert durch den politischen Einfluss der beiden christlichen Kirchen. In ihrem gemeinsamen Vortrag vermitteln Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle einen Eindruck vom restriktiven Einfluss der Kirchen auf die Lebenswelten von homo- und bisexuellen Männern in Baden-Württemberg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Sie beleuchten durchaus ambivalente Anerkennungsbemühungen und stellen kirchliche Institutionen und Akteur*innen vor, die Liberalisierungsdebatten mitanstießen.

Impuls 4: Wie der „Nie-wieder“-Auftrag besonders beim Thema religiös begründeter Abwertungen queerer Menschen Jugendliche aus muslimisch/migrantisch geprägten Familien erreichen kann
Olcay Miyanyedi
Den drei abrahamitischen Weltreligionen, – Judentum, Christentum und Islam –, liegen in großen Teilen die ca. 5000 Jahre alten fünf Bücher Moses zugrunde. Insbesondere nach der „Schöpfungsgeschichte“, die sich um Adam und Eva dreht, hätte Gott den Menschen zuerst als Mann und danach als Frau und beide ausschließlich heterosexuell angelegt. Gleichgeschlechtliche Empfindungen seien eine Abweichung einer gottgewollten Norm. Diese Aussagen, die nicht als Gottes Worte, sondern heute als historisches Produkt einer zeitgebundenen Interpretation der heiligen Schriften gewertet werden, sind nicht nur (religions-)wissenschaftlich längst überholt, sondern nach wie vor auch diskriminierend und sehr verletzend. Im Vortrag wird analysiert, wie sich Machtstrukturen und struktureller Rassismus in Deutschland auf muslimische und migrantische Jugendliche auswirken und dazu beitragen können, eine feindselige Haltung gegenüber queeren Personen sowie menschenverachtende Ideologien zu fördern. Es wird der Frage nachgegangen, wie dem in der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit entgegengewirkt werden kann.

Hintergrundinformationen zu den Vergebungserklärungen der christlichen Kirchen und zur Rolle von Bibel- und Korantexten für die Ausgrenzung und Unterdrückung queerer Menschen

Bild rechts: Joachim Stein († 5.2.2023), Vorstand der Weissenburg LSBTIQA+-Zentrum Stuttgart, setzt sich in seiner Rede beim Deutscher Evangelischer Kirchentag Stuttgart in 2015 für die Aufarbeitung des NS-Unrechts an queeren Menschen und der konkreten Rolle der Landeskirche ein.