Weissenburg e.V. in Kooperation mit: SjR Esslingen, SjR Stuttgart, Regenbogenrefugium, Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, Black Community Foundation Stuttgart, Jüdische Studierendenunion, Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg.
Text und künstlerische Leitung: Philine Pastenaci.
Video der gesamten Gedenkstunde. Performance „Wir: Gestern, heute, morgen“ ab 1:13.

Von Philine Pastenaci

Wer waren wir
Wer sind wir
Wer wollen wir sein.
Woran erinnern wir uns.
Woran nicht.

Man sagt, dass die Geschichte ständig neu geschrieben wird. 

Wir erinnern uns oft daran, was 1945 alles vorbei war.
Wir erinnern uns selten daran, was alles weiter ging.

Wir erinnern uns gerne daran, was alles aufgeklärt wurde.
Wir erinnern uns ungerne daran, was alles vertuscht wurde.

Wer alles im Amt geblieben ist,
Wer alles weiter verfolgt wurde,
Wer weiterhin eine gute Karriere hatte:

Lehrer*innen,Polizisten, Richter, Juristen, Ärzt*innen und viele mehr.

Wir erinnern uns daran, dass die meisten von ihnen Männer waren.

Wir erinnern uns daran, dass von 8500 SS Angehörigen, die in Auschwitz beschäftigt waren in Deutschland genau 49 für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden.
49 von 8500

Wir erinnern uns daran, dass das nur ein Beispiel ist.
Wir erinnern uns daran, dass Millionen weitere Täter unbehelligt weiter lebten.

Wir erinnern uns an die Behandlung von Menschen mit Behinderung nach 45.
An die Ärzte und Ärztinnen, die weiter in den gleichen Einrichtungen arbeiteten in denen vorher gemordet wurde.

Wir erinnern uns daran, dass eine ganze Generation behinderter Menschen fehlt.

Wir erinnern uns selten an die Konsequenzen all dessen.
Wir erinnern uns selten daran, dass die Menschenfeindlichkeit nie ganz aufgehört hat.

Wir erinnern uns an die ersten Forderungen nach einem Schlussstrich unter die NS Zeit.
In den 1950er Jahren.
Wir erinnern uns an die Verharmlosung.

Wir erinnern uns an die Sinti Familie, die nahe Reutlingen ein Haus kaufen wollte, die Bevölkerung des Ortes aber gemeinschaftlich das Haus zerstörte bevor jemand einziehen konnte.
An den Bürgermeister, der eben jene Bevölkerung in den Schutz nahm.

An die homosexuellen Männer, die kaum aus dem KZ entlassen, wieder verhaftet wurden um ihre Strafe weiter abzusitzen. Ihre Strafe für so genannte „Unzucht“.

Wir erinnern uns daran, dass das Wort „asozial“ von Nationalsozialisten geprägt wurde, für alle, die nicht in ihr Weltbild passten:
Menschen mit Suchterkrankung, lesbische Frauen, trans Personen, Obdachlose, Arme, Alkoholkranke, Wanderarbeiter, sogenannte Arbeitsscheue, und viele mehr.

Wir erinnern uns an den Kampf aller betroffenen Gruppen, als Opfer anerkannt zu werden:

An Juden und Jüdinnen, Christ*innen aus Osteuropa, Menschen mit Behinderungen, Sinti*zze, Rom*nja, Jenische, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“, politisch Engagierte, Widerstandskämpfer*innen, Kriegsdienstverweigerer, Deserteure, an Schwarze Menschen.


Wir erinnern uns an die Abartigkeit der NS Rassenideologie.
Wir erinnern uns selten daran, dass diese eine lange Vorgeschichte hat.

Wir erinnern uns selten an die Grauen der deutschen Kolonialzeit.
Selten daran, dass die ersten deutschen Konzentrationslager im heutigen Namibia standen.

Wir erinnern uns an:
die Toten,
die Ermordeten,
die Entrechteten,
die Versklavten,
die Geschändeten,
die Entmenschlichten.

Aber leider oft nur aus bestimmten Zeiten.

Wir erinnern uns daran, wie Menschen gesagt wurde:
Du gehörst hier nicht hin.
Du bist nicht Deutsch.
Du bist kein Mensch. 
Du solltest hier nicht leben.
Du solltest überhaupt nicht leben.

Wir erinnern uns daran, wie Menschen nicht mehr Straßenbahn fahren durften, nicht mehr arbeiten durften, nicht mehr zur Schule gehen durften, ihnen der Pass entzogen wurde, wie ihnen nach und nach sämtliche Grundrechte entzogen wurden, und sie weg gebracht wurden.

Wie Menschen zu Schwerstarbeit gezwungen wurden. Wie Experimente an Ihnen durch geführt wurden. Wie sie staatlich organisiert ermordet wurden. 

Wir erinnern uns daran, dass innerhalb der kurzen 12 Jahre der NS Herrschaft die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen wurden.

Wir erinnern uns daran, dass nach 1945  im Angesicht des Grauens der NS Verbrechen die internationalen Menschenrechte formuliert wurden, genauso wie die Genfer Flüchtlingskonvention.

Wir erinnern uns an Artikel 1 Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Aber auch an Absatz zwei:
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

Wir erinnern uns daran, wie stolz diese Gesetze formuliert wurden.
Aber auch daran, wie wenig sie umgesetzt werden.

Wir erinnern uns an Semre Ertans Gedicht:
„Mein Name ist Ausländer“ dass beschreibt, wie sie nicht als Mensch wahrgenommen wurde.

Daran, dass sie sich aus Protest gegen die Feindlichkeit, die ihr begegnete, 1982 selbst verbrannte.

Wir erinnern uns an die Anschläge in:
Mölln,  Solingen, Rostock Lichtenhagen, an die NSU Morde, an Dessau, Kassel, Halle, Hanau

Wir erinnern uns daran, dass es kaum Konsequenzen danach gab.
Dass der Ruf nach Solidarität immer schnell verhallte.
Der nach geschlossenen Grenzen und Abschiebung aber immer lauter wurde.
Dass die Mittel für Jugendarbeit und Bildung im Anschluss kaum erhöht wurden.

Wir erinnern uns an,  Layla M., die mit ihrer Partnerin vor Verfolgung und Tod aus dem Iran geflohen ist. Die im Dezember 2023 in Stuttgart nachts um 3:30 von der Polizei geweckt wurde, daran dass sie durch die Polizei von ihrer Partnerin getrennt wurde, daran dass sie so in Panik geriet, dass sie nicht in der Lage war einen Koffer zu packen.
Daran, dass sie ohne Jacke und Wechselkleidung bei Minusgraden nach Finnland gebracht wurde.

 Wir erinnern uns daran, dass ihr Fall keine Ausnahme ist. Dass ähnliches jeden Tag passiert.

Wir erinnern uns daran, dass diese Liste endlos fortgeführt werden könnte.

Wir erinnern uns daran wie gesagt wurde, eine ganze Religionsgemeinschaft würde nicht zu Deutschland gehören.

Wir erinnern uns an den Wert der Meinungsfreiheit.
Wir erinnern uns daran, dass man durchaus alles sagen kann.
Dass man sich fragen sollte ob man alles sagen möchte.
Dass Sprache immer eine Geschichte hat.
Dass sie immer im Wandel ist.
Und immer im Wandel war.
Sprache ist ein Spiegel unserer Zeit.
Wofür wir keine Worte haben, das existiert für uns nicht.
Wofür wir nur abwertende Worte haben, das werten wir ab.

Wir erinnern uns an,  die ersten Menschen, die gegen die Abwertung aufgestanden sind:

Menschen verschiedener Religionen, die verschiedene Sprachen sprechen, die verschiedene Kulturen leben, verschiedene Geschlechter haben, verschiedene Körper, verschiedene Haare, verschiedene Hautfarben, die verschieden lieben, und verschiedene Fähigkeiten haben.

Aber alle das selbe Blut. Und die selbe DNA. Die alle Homo Sapiens sind. Verständige Menschen.
Die aufgestanden sind und gesagt haben:

Es reicht.
 
ich will das nicht mehr.
Ich lasse mich nicht mehr bespucken.
Ich lasse mich nicht mehr klein machen.
Ich habe ein Recht zu leben.
Ich habe ein Recht hier zu leben.
Ich bin ein Mensch.
Ich habe Rechte.
Ich habe Würde.
Ich möchte, dass diese geachtet wird.

Wir erinnern uns daran, dass die Meinungsfreiheit des einen da aufhören sollte, wo die Würde eines anderen anfängt.

Wer sind wir.
Wer wollen wir sein.
Wer ist mit „wir“ gemeint?
Warum gibt es immer wieder ein „wir“ und ein „die“?
Ist das „wir“ nicht stärker je mehr Menschen es einschließt?

Wir wünschen uns:
Solidarität. Menschlichkeit. Anerkennung. Würde. Inklusion. Bildung. Aufklärung. Empathie.

Wir leben in einem Land der Kultur der Erinnerung. Erinnerung bedeutet Verantwortung.
Bedeutet Probleme Lösen statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Ihr könnt bestimmen wer ihr sein wollt.
Wir können bestimmen wer wir sein wollen.
Gestern, heute und morgen.