An subtil weiterwirkenden, religiös begründeten Abwertungen von queeren Menschen als „widernatürlich“ oder gar als „Gefahr für Kinder und Familien“ knüpfen rechtspopulistische bis neofaschistische sowie religiös-fundamentalistische Kräfte heute wieder an. „Wie lässt sich dieser Nährboden für Hass und Gewalt gegen queere Menschen erfolgreich und nachhaltig abtragen?“ Diese Frage stand bei der öffentlichen Tagung im Erinnerungsort Hotel Silber Stuttgart am 13. Juli 2024 im Mittelpunkt.

Über 60 Personen hörten sich vier unten genauer vorgestellte Impulsvorträge von Ralf Bogen, Reinhard Brandhorst, Dr. Noah Munier und Karl-Heinz Steinle sowie Olcay Miyanyedi an. Moderiert wurde die anschließende (Podiums-)Diskussion von Brigitte Lösch, Vorsitzende der Initiative Lern‐ und Gedenkort Hotel Silber, und Dr. Axel Schwaigert, MCC Gemeinde Stuttgart. Für den musikalischen Rahmen der von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg geförderten Veranstaltung sorgte der Klarinettist Jürgen Klotz. Zur Veranstaltung hatten eingeladen: das Projekt „Der-Liebe-wegen.org“, Weissenburg LSBTIQA+-Zentrum Stuttgart, MCC Gemeinde Stuttgart und Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber in Kooperation mit der Abteilung Chancengleichheit der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Haus der Geschichte Baden.-Württemberg.

Die Diskussionsrunde war sich weitgehend einig darin,

  • dass die konkrete Rolle der evangelischen und katholischen Kirche bei der Unterdrückung queerer Menschen in der NS-Zeit hier in Württemberg baldmöglichst aufgearbeitet werden soll (bislang sind uns wissenschaftliche Arbeiten und Publikationen „nur“ zu den Themen Kirchen und Krankenmorde sowie Kirchen und Antisemitismus / Shoa bekannt);
  • dass beispielsweise durch historische Bildung viel bekannter gemacht werden soll, dass der Islam per se nicht queerfeindlicher als das Christentum ist und mit den fünf Bücher Mose gemeinsame Wurzeln hat. Im Iran gab es beispielsweise um 1500 keine aktive Strafverfolgung von Homosexualität, während im christlichen Europa um diese Zeit Männer wegen gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen als „Sodomiten“ im Namen der Bibel getötet wurden. Heute ist es umgekehrt;
  • dass positive Beispiele von kirchlichen und muslemischen Akteuren sowie islamische Religionsgemeinschaften (siehe z. B. den Liberal-Islamischen Bund e.V.), die sich für Akzeptanz, Respekt und Gleichberechtigung queerer Menschen einsetzen, breiter bekannt gemacht werden sollten;
  • und dass gemeinsame Begegnungen von christlichen, muslemischen und atheistischen Menschen, um Vorurteile abzubauen, initiiert und gefördert werden sollen.

Wir veröffentlich hier, unter anderem auf Wunsch von Teilnehmenden, die Vortragsdateien 1, 2 und 4 und bedanken uns bei allen Beteiligten, so auch bei den fleissig Helfenden, die sich um die Verpflegung in der Kaffeepause gekümmert haben. Weitere Informationen zur Rolle von Bibel- und Korantexten bei der Diskriminierungsgeschichte queerer Menschen siehe hier.

Impuls 1: Die Frage nach den ideologischen Grundlagen der Ausgrenzung und Diskriminierung queerer Menschen während der NS- und Nachkriegszeit
Ralf Bogen, Projekt „Der-Liebe-wegen.org

NS- und Nachkriegstäter der Ausgrenzung und Diskriminierung von LSBTIQ-Menschen gab es nicht nur in Polizei und Justiz. Neben den Täter:innn in den Universitäten gab es diese auch in der evangelischen und katholischen Kirche, die gerade auch nach 1945 jahrzehntelang die ideologischen Grundlagen der Abwertung und Kriminalisierung queerer Menschen gesellschaftlich verankert haben. Auch die Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg hat in der Nachkriegszeit sehr lange noch sexuelle und geschlechtliche Minderheiten nicht als Opfer des NS- und Nachkriegsunrechts angemessen anerkannt, geschweige denn, eine vertiefte Auseinandersetzung mit den ideologischen Wurzeln dieses Unrechts geführt. Erst 2016 konnte in Kooperation – unter anderem mit dem Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg – durch die Fachtagung „Späte Aufarbeitung – Lebenswelten und Verfolgung von LSBTTIQ-Menschen im deutschen Südwesten“ ein grundsätzlich anderer Umgang mit dieser NS-Opfergruppe eingeleitet werden.

Impuls 2: Der lange Weg bis zur Bitte um Vergebung der evangelischen Kirche in Württemberg für das Unrecht, das von ihr an gleichgeschlechtlich orientierten Menschen begangen wurde
Reinhard Brandhorst, Pfarrer i. R., über 20 Jahre Pfarrer der Leonhardsgemeinde Stuttgart und Initiator der alljährlichen Stuttgarter CSD- und Welt-AIDS-Tag-Gottesdienste

70 Jahre nach der Befreiung vom sogenannten Dritten Reich begann der Deutsche Evangelische Kirchentag 2015 in Stuttgart mit dem „Gedenken zu Beginn“ erstmals an die Ausgrenzung und Verfolgung gleichgeschlechtlich Liebender zu erinnern. „Die Kirchen, auch unsere Württembergische Ev. Landeskirche, traten weder in der Zeit des Nationalsozialismus noch in der Nachkriegszeit eindeutig und klar für homosexuelle Menschen und gegen ihre Verfolgung und Ermordung ein. Gegen die Herabwürdigung und Verachtung von Homosexuellen durch weite Teile der christlichen Kirchen gab es im sog. Dritten Reich lediglich Einzelaktionen von wenigen Christen“, so begründete 2017 der Erstunterzeichner Dr. Harald Kretschmer den Antrag an die 15. Evangelische Landessynode in Württemberg, gleichgeschlechtlich orientierten Menschen um Vergebung zu bitten. 2019 hat der damalige Bischof Dr. h. c. Frank Otfried July in einer Andacht vor der Sommersynode die Bitte um Vergebung ausgesprochen. Zu Beginn des Vortrags wird ein kurzer Videoausschnitt der Vergebungsbitte gezeigt.
Reinhard Brandhorst, seit 1972 engagiert in schwulen Emanzipationsgruppen, vernetzt mit dem Bündnis Kirche und Queer (BKQ) und verheiratet mit Jürgen Klotz, hat aus seiner persönlichen Sicht berichtet, wie er den Weg bis zur Vergebungsbitte erlebt hat und was er sich heute von Kirche und Gesellschaft in Bezug auf die Aufarbeitung des genannten Unrechts wünscht.

Impuls 3: Die Kirche und der §175 StGB nach 1945
Dr. Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Abteilung Neuere Zeitgeschichte, Forschungsprojekt „LSBTTIQ in Baden und Württemberg

In der Bundesrepublik Deutschland war noch bis Ende der 1960er Jahre jede Form von männlicher Homosexualität kriminalisiert. Trotz Kritik hielt die Politik am vom Nationalsozialismus übernommenen §175 StGB fest. Das insgesamt restriktive Sexualstrafrecht der Bundesrepublik hatte Auswirkungen auf die Lebenswelten Vieler – betroffen waren homo- und bisexuelle Männer wie Frauen, Personen, die geschlechtlichen Minderheiten zugehörten und selbst Heterosexuelle, die kein der Norm entsprechendes Beziehungs- und Liebesleben führten. Diese reformfeindliche Haltung der Politik war mitunter bestimmt und fundiert durch den politischen Einfluss der beiden christlichen Kirchen. In ihrem gemeinsamen Vortrag vermittelten Dr. Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle einen Eindruck vom restriktiven Einfluss der Kirchen auf die Lebenswelten von homo- und bisexuellen Männern in Baden-Württemberg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Sie beleuchteten durchaus ambivalente Anerkennungsbemühungen und stellen kirchliche Institutionen und Akteur*innen vor, die Liberalisierungsdebatten mitanstießen.

Impuls 4: Wie der „Nie-wieder“-Auftrag besonders bei diesem Thema Jugendliche aus muslimisch/migrantisch geprägten Familien erreichen kann
Olcay Miyanyedi, Religions- und Erziehungswissenschaftler, Forschung zu LSBTTIQ Jugendlichen mit Migrationsbiografie und einer der drei Schirmpersonen von Stuttgart Pride 2024

Den drei abrahamitischen Weltreligionen, – Judentum, Christentum und Islam –, liegen in großen Teilen die ca. 5000 Jahre alten fünf Bücher Moses zugrunde. Insbesondere nach der „Schöpfungsgeschichte“, die sich um Adam und Eva dreht, hätte Gott den Menschen zuerst als Mann und danach als Frau und beide ausschließlich heterosexuell angelegt. Gleichgeschlechtliche Empfindungen seien eine Abweichung einer gottgewollten Norm. Diese Aussagen, die nicht als Gottes Worte, sondern heute als historisches Produkt einer zeitgebundenen Interpretation der heiligen Schriften gewertet werden, sind nicht nur (religions-)wissenschaftlich längst überholt, sondern nach wie vor auch diskriminierend und sehr verletzend. Im Vortrag analysierte Olcay Miyanyedi wie sich Machtstrukturen und struktureller Rassismus in Deutschland auf muslimische und migrantische Jugendliche auswirken und dazu beitragen können, eine feindselige Haltung gegenüber queeren Personen sowie menschenverachtende Ideologien zu fördern. Er ging der Frage nach, wie dem in der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit entgegengewirkt werden kann.

Brigitte Lösch, Vorsitzende der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, und Dr. Axel Schwaigert, MCC Gemeinde Stuttgart, bei der Moderation der Veranstaltung
Für den musikalischen Rahmen sorgte der Klarinettist Jürgen Klotz.

Link Zeitungsartikel von Heidemarie A. Hechtel in der Stuttgarter Zeitung (leider kostenpflichtig)