Dezember 2023: Fünf Jahre Erinnerungsort Hotel Silber und Stationen des Kampfes für eine dauerhafte Darstellung des NS- und Nachkriegsunrechts an homosexuellen Menschen
[Aktualisiert am 5.1.2024] Unser Projekt „Der-Liebe-wegen“ war von Anfang an und ist immer noch eng verwoben mit dem Erinnerungsort Hotel Silber am Stuttgarter Karlsplatz, der während der NS-Diktatur Sitz der Gestapo von Württemberg und Hohenzollern war. Wir sind stolz darauf, dass erstmals in Baden-Württemberg in einem Erinnerungsort das §175-Unrecht sowohl während der NS-Zeit als auch in der Nachkriegszeit angemessen dargestellt und – wenn auch nur kurz – das Leid lesbischer Frauen und geschlechtlicher Minderheiten thematisiert und damit sichtbar wird. Rechtspopulistische und neonazistische Kräfte sollen „NIE WIEDER“ die Chance erhalten, ausgrenzende Sexualitäts-, Geschlechts- und Familienbilder für ihre demokratiefeindlichen Zielen zu instrumentalisieren.
Anlässlich der Jubiläumstage „5 Jahre Erinnerungsort Hotel Silber“ veröffentlichen wir folgende zwei Beiträge:
„Systematische Aufarbeitung und dauerhafte Darstellung des NS-Unrechts an homosexuellen Menschen – wie lange noch eine Fehlanzeige in Baden-Württemberg?“ aus Schwulst Nr. 86, Sommer 2010.
Damals behauptete Dr. Thilo Traub, Geschäftsführer der CDU-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, dass das Land sich im Rahmen von den bisherigen Gedenkorten, Gedenkstätten und historischen Ausstellungen über die Zeit des NS-Regimes „bereits (…) an die Opfer aus den Reihen der Homosexuellen (…) erinnert“. Und Heiderose Berroth, Sprecherin der FDP/DVP Fraktion im baden-württemberg Landtag schrieb, das sie es sich „gar nicht vorstellen kann, dass es das nicht schon irgendwo gibt bei der reichlichen Zahl von Gedenkstätten im Land.“ Die Antwort zur Anfrage „NS-Aufarbeitung und Dokumentation in Baden-Württemberg – Denk- und Lernort im ehemaligen Hotel Silber“, 6439, von den Abg. Brigitte Loesch u. a. Grüne vom 20.10.2010 an den baden-württembergischen Landtag stellte demgegenüber klar: „Es gibt in Baden-Württemberg bisher keine systematische Aufarbeitung und dauerhafte Darstellung des NS-Unrechts an homosexuellen Menschen.“
„Erste Erfolge bei der Aufarbeitung und dauerhaften Darstellung des Unrechts an homosexuellen Menschen in Baden-Württemberg„, aus den Mitteilungen des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ Gedenkstätte – Heft 68 vom Juni 2018.
Wir wollen durch diese Rückschau in das Bewusstsein rufen, wie um diesen Erinnerungsort gestritten werden musste und erfolgreich gestritten wurde.
Auch 2024 werden wir uns vom Projekt „Der-Liebe-wegen“ an Veranstaltungen der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber beteiligen oder diese in Zusammenarbeit gemeinsam durchführen. Die Zusammenarbeit beginnt bereits am 27. Januar 2024, dem Gedenktag für die Opfer der NS-Diktatur, wo wir gemeinsam zum Gedenken um 11 Uhr am Stolperstein für Käthe Loewenthal in der Ameisenbergstraße 32 in Stuttgart Ost einladen.
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Den Beitrag „Erste Erfolge bei der Aufarbeitung und dauerhaften Darstellung des Unrechts an homosexuellen Menschen in Baden-Württemberg“ aus den Mitteilungen des Dokumentationszentrums Oberer Kuhberg Ulm e. V. – KZ Gedenkstätte – Heft 68 vom Juni 2018, kopieren wir hier zusätzlich hinein:
Über die Stationen des Kampfes für eine Aufarbeitung und dauerhafte Darstellung des NS- und Nachkriegsunrechts an homosexuelle Menschen in Baden-Württemberg berichtet Ralf Bogen von der AG Vielfalt der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber und vom Webprojekt www.der-liebe-wegen.org, der sich seit vielen Jahren maßgeblich daran beteiligt.
In Baden-Württemberg haben mehrere homophobe Demonstrationen gezeigt, dass rechtspopulistische Kräfte zunehmend rückwärtsgewandte Geschlechter- und Familienbilder für ihre demokratiefeindlichen Ziele instrumentalisieren. In Zusammenarbeit mit christlich-fundamentalistischen Kreisen diffamieren sie Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als „Frühsexualisierung“ und bringen diese in Verbindung mit Kindesmissbrauch und Pädophilie. Diese demagogische Propaganda macht deutlich, wie wichtig es ist, an das Unrecht der NS- und Nachkriegsverfolgung homosexueller Männer zu erinnern.
Noch 2010 räumte die damalige Landesregierung ein, dass es in Baden-Württemberg „bisher keine systematische Aufarbeitung und dauerhafte Darstellung des NS-Unrechts an homosexuellen Menschen“ gibt (Quelle: Antwort des Finanzministeriums vom 27.6.2010 auf einen Antrag zur „NS-Aufarbeitung und Dokumentation in Baden-Württemberg“ der Abg. Brigitte Lösch u. a.). Erst im Januar 2017 gelang es durch das bürgerschaftliche Engagement außeruniversitär Forschender gemeinsam mit den Vereinen Rosa Hilfe Freiburg und Weissenburg e. V. Stuttgart, das Ausmaß dieses Unrechts in unserer Region aufzuarbeiten und es durch das Internetprojekt www.der-liebe-wegen.org sichtbar zu machen. Darauf aufbauend soll das Thema auch in der Dauerausstellung im Stuttgarter „Hotel Silber“ Ende 2018 endlich angemessen dargestellt werden. Dafür setzt sich die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e. V. zusammen mit ihren Mitgliedsorganisationen IG CSD Stuttgart, Kings Club, LSVD Baden-Württemberg und Weissenburg e. V. (LSBTTIQ-Zentrum Stuttgart) ein. Im Folgenden eine Chronologie dieser Entwicklung:
2008
Das Gebäude „Hotel Silber“ am Stuttgarter Karlsplatz war der Sitz der Geheimen Staatspolizei von Württemberg und Hohenzollern und nach 1945 der Sitz der städtischen Kriminalpolizei. Im Jahr 2008 werden Pläne bekannt, es für ein kommerzielles Bauprojekt abzureißen. Um dies zu verhindern, schließen sich 22 Organisationen und viele Einzelpersonen in der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber zusammen. Unter ihnen sind auch LSBTTIQ-Menschen und -Vereine. Zeitgleich beginnen mehrere Bürger*innen über die Rolle dieses Täterortes vertiefend zu recherchieren. Dabei gewonnene Erkenntnisse werden mit Veröffentlichungen und Veranstaltungen breiter bekannt:
- dass von jenem Gebäude „Hotel Silber“ Verfolgungen homosexueller Männer in der NS- und Nachkriegszeit ausgegangen sind;
- dass die Gestapo den Vorwurf der Homosexualität als Vorwand benützte, um gegen missliebige Personen und Gruppen wie z. B. die bündische Jugend vorzugehen. So verhaftete sie am 11. November 1937 in Ulm elf Jugendliche im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren und brachte sie zu Verhören nach Stuttgart ins „Hotel Silber“. In der Folge wurde der spätere Widerstandskämpfer der Weißen Rose Hans Scholl zunächst unter dem Vorwurf der „Unzucht mit einem Untergebenen“ nach §175a verhaftet;
- dass das Land Baden-Württemberg mit annähernd 20.000 §§175/175a-Ermittlungsverfahren und über 7.000 §175-Verurteilungen eine „Spitzenreiterrolle“ bei der Verfolgung eingenommen hat;
- dass bei dieser besonderen Verfolgungsintensität auch überlebende Emslandslager- und KZ-Häftlinge in der Nachkriegszeit erneut wegen §§175/175a verurteilt wurden. [Quelle: Ralf Bogen: „Vorkämpfer im Kampfe zur Ausrottung der Homosexualität“ in „Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern“ (Hrsg. Bauz/Brüggemann/Maier) Stuttgart 2013 oder „Ausgrenzung und Verfolgung homosexueller Männer in Württemberg“ in „Homophobie und Sexismus“, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung BW, Stuttgart 2015.]
2009
„In Baden-Württemberg gibt es bislang keine Gedenkstätte, welche die NS-Verfolgung Homosexueller gemeinsam mit den anderen NS-Opfergruppen darstellt. Dies wollen wir mit Ihrer/eurer Unterstützung ändern.“ Mehrere schwul-lesbische Organisationen und Einzelpersonen beteiligen sich mit diesem Begleittext an der von der Initiative durchgeführten Unterschriftensammlung „Zukunft braucht Erinnerung!“ für den Erhalt des Gebäudes „Hotel Silber“ als Gedenk- und Lernort.
2010
Weissenburg e. V. und das Stadtarchiv Stuttgart organisieren erstmals im Stuttgarter Rathaus eine Ausstellung zum Thema nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung. Diese und ein Sonderheft von SCHWULST, Magazin für Schwule und Lesben in Baden-Württemberg, zeigen u. a., dass es in der Weimarer Republik mehrere Lokale und emanzipatorische Vereine von Schwulen und Lesben in Stuttgart gab.
2011
Dank des hartnäckigen Engagements der Initiative kann erreicht werden, dass nach der Landtagswahl 2011 die Landesregierung den Erhalt des Gebäudes „Hotel Silber“ beschließt und Stadt und Land sich 2013 zur Finanzierung eines Lern- und Gedenkortes verpflichten.
2013
420 Menschen unterstützen die Online-Unterschriftenaktion „Für einen würdigen Lern- und Gedenkort im ehemaligen Gestapogebäude ‚Hotel Silber‘ unter Einbeziehung aller NS-Verfolgtengruppen“ mehrerer LSBTTIQ-Vereine.
2014
Mit dem im November 2014 verabschiedeten Grobkonzept für die Dauerausstellung im „Hotel Silber“ wird ein weiterer wichtiger Erfolg erzielt: es sieht vor, die Ausgrenzung und Verfolgung homosexueller Männer in der NS- und Nachkriegszeit darzustellen.
2015
Die LSBTTIQ-Emanzipationsbewegung erreicht mit Hilfe vieler Unterstützer*innen, dass die baden-württembergische Landesregierung einen Aktionsplan für Akzeptanz und gleiche Rechte verabschiedet. Eines der Ziele ist die Würdigung der LSBTTIQ-Geschichte als Teil der Landesgeschichte, so dass jetzt auch bürgerschaftliche Erinnerungsarbeit und ein entsprechendes universitäres Forschungsprojekt gefördert werden.
2017
Mit der Website www.der-liebe-wegen.org wenden sich Rosa Hilfe Freiburg e. V. und Weissenburg e. V., Stuttgart, gegen noch immer weit verbreitete Vorurteile, wie z. B. mann-männliche Beziehungen auf Sex zu reduzieren und frauenliebenden Frauen autonome sexuelle Bedürfnisse nicht zuzugestehen. Grundlage der Website sind die Ergebnisse jahrelanger Arbeit von außeruniversitär Forschenden, die im Rahmen des von der Landesregierung geförderten Projekts 2016 zusammengetragen, systematisiert und aktualisiert werden konnten. Projektbeteiligte Autor*innen sind: Werner Biggel, Rainer Hoffschildt, William Schaefer, Kim Schicklang, Christina Schieferdecker, Claudia Weinschenk und der Autor dieses Beitrags. Im Fokus stehen die in einer digitalen Gedenkkarte dargestellten Einzelschicksale von über 250 Opfern der nationalsozialistischen Diktatur. Darunter befinden sich die Schicksale von 18 Männern, die in Ulm geboren sind und/oder dort nach §§175/175a verhaftet, verurteilt und in ein Strafgefangenen- und/oder KZ-Lager eingewiesen wurden. Erstmals können zahlreiche Scans von Originaldokumenten der regionalen Verfolgung aufgerufen werden. Ein Exkurs klärt über Minderheiten mit geschlechtlicher Thematik auf.
Das in jahrelanger Recherchearbeit erworbene Detailwissen kann ich in die Arbeitsgemeinschaft Dauerausstellung „Hotel Silber“ einbringen, welche sich aus Mitarbeitenden des Hauses der Geschichte und unserer Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber zusammensetzt. Die Ausstellungseröffnung ist für Dezember 2018 geplant.
Zukunftswunsch
Es sind nicht wenige Repräsentant*innen der katholischen Kirche, evangelikaler Gruppen und islamischer Verbände, die noch heute eine vollständige Gleichberechtigung von Frauen ablehnen sowie gelebte Homosexualität immer noch als „widernatürlich“ und „abnormal“ diskreditieren. Damit stärken sie einen gefährlichen Nährboden für radikalere Formen der Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung bis hin zu Hass und Gewalt. Daran können rechtspopulistische, neonazistische und islamistische sowie christlich-fundamentalistische Kreise anknüpfen. Mein Wunsch ist, dass die ideologischen Grundlagen der Abwertung und Ausgrenzung von LSBTTIQ-Menschen und dabei die besondere Rolle der beiden Amtskirchen, islamischer Verbände und der Universitäten verstärkt beleuchtet und möglichst durch diese selbst nachhaltig aufgearbeitet werden. Denn gerade diese wirken in vielen Köpfen noch immer subtil weiter.
Ralf Bogen