„Lesbisches* Leben im deutschen Südwesten“
Im Rückblick auf die gut besuchte Veranstaltung „Lesbisches* Leben im deutschen Südwesten“ am 23. April 2024 im Erinnerungsort Hotel Silber veröffentlichen wir hier das Grußwort von Ute Reisner vom Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg, Themengruppe Geschichte und bedanken uns bei Ute Reisner für das zur Verfügungstellen ihrer Rede:
Liebe Anwesende aus Wissenschaft, Institutionen, Politik und Gesellschaft,
seit 2012 gibt es das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg als überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von Gruppen, Vereinen und Initiativen, die sich für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt einsetzen. In der Themengruppe Geschichte des Landesnetzwerks engagieren wir uns seither dafür, dass unsere eigene vielfältige Geschichte als Lesben, Schwule, Trans*menschen und aller anderen, die nicht in das binäre Schema von Heterosexualität oder von Mann oder Frau passen, als selbstverständlicher Teil der Landesgeschichte sichtbar wird. Zu dieser Geschichte gehören nicht nur soziale Ausgrenzung, Psychopathologisierung, Repression und Verfolgung, sondern auch vielfältiges Leben und Engagement in dieser Gesellschaft, in unterschiedlichen Lebensformen, und der selbstbewusste Kampf um gleichberechtigte Teilhabe als Bürger*innen dieser demokratischen Gesellschaft.
Einige Aktive der Themengruppe Geschichte sind heute Abend anwesend:
Ralf Bogen, der am Bücherstand das Projekt Der Liebe wegen vertritt, die freie Historikerin Claudia Weinschenk, die auch ins Forschungsprojekt eingebunden ist und Eckhard Prinz von der schwul-lesbischen Geschichtswerkstatt Rhein-Neckar. Ich selbst engagiere mich seit 2018 im Netzwerk, seit ich als Zeitzeugin in einem Ausstellungsprojekt zu 50 Jahren 68er Bewegung meine eigene Biografie reflektiert habe. Ich habe in den 80er Jahren Geschichte studiert; feministische und gendertheoretische Fragestellungen habe ich außerhalb der Universität in Frauengruppen entdeckt und mich in den 90er Jahren kulturpolitisch beim lesbisch-schwulen Schrill-im-April-Festival in Karlsruhe engagiert.
Wir sind alle in den Fünfziger und Sechziger Jahren geboren und von den Emanzipationskämpfen der Frauenbewegung, des Feminismus und der Lesben- und Schwulenbewegungen der 70er und 80er Jahre unterschiedlich geprägt; wir haben selbst erlebt, wie wir als anders als die anderen – die sog. „Normalen“ – wahrgenommen wurden, wie sich dies auf unser Privatleben und auf unsere Berufsbiografien ausgewirkt hat. Wir sind also „Betroffene“, „Objekte“ der Geschichtswissenschaft und zugleich Zeitzeug*innen, Subjekte dieser Geschichte und Aktivist*innen in eigener Sache. Einige von uns sind selbst studierte Historikerinnen, die aus eigener Initiative und außerhalb von Universitäten forschen, andere haben sich aus Eigeninitiative auf Quellensuche gemacht und sich in die geschichtswissenschaftlichen Diskurse eingearbeitet.
Bis 2020 haben im Südwesten – hier in Baden-Württemberg – insbesondere Forschungen zu lesbischen Frauen nur aus Privatinitiative in der autonomen Frauenforschung und in Geschichtswerkstätten ihren Platz gehabt. Als Themengruppe konnten wir 2019 erfolgreich das Anforschungsprojekt “Alleinstehende Frauen”, “Freundinnen”, “frauenliebende Frauen” – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten in den 1920er bis 1950er Jahren an den Universitäten Heidelberg und Freiburg auf den Weg bringen, dessen Ergebnisse heute Abend vorgestellt werden.
Schon 2016 initiierten die Vereine Rosa Hilfe e.V. in Freiburg und das LSBTTIQ Zentrum Weissenburg e.v. in Stuttgart das Projekt Der Liebe wegen, das seit 2017 erstmals für Baden-Württemberg online Einzelschicksale von Opfern der nationalsozialistischen Diktatur dokumentiert und von Homosexuellen, die auch noch in den 50er und 60er strafrechtlich aufgrund des § 175 drangsaliert wurden. Auch diese jahrelangen Archivrecherchen und Forschungsarbeiten sind außeruniversitär und geschichtspolitisch engagierten Aktivisten zu verdanken.
Seit 2019 forscht die Historikerin Claudia Weinschenk, ebenfalls außeruniversitär und aus Projektmitteln finanziert zur Auffindbarkeit lesbischer Frauen in Psychiatrien im Nationalsozialismus in Baden-Württemberg und leistete mit ihren Archivrecherchen wichtige Vorarbeiten zum universitären Forschungsprojekt an den Universitäten Heidelberg und Freiburg.
Andere engagieren sich für die Sicherung von Quellen in sog. Bewegungsarchiven, wo Akteurinnen der Frauen- und Lesbenbewegung seit den 70er/80er Jahren selbst für die Dokumentation ihrer eigenen Geschichte sorgen, so wie im Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs in Tübingen, deren Vertreterin Petra Krüger heute an der Podiumsdiskussion leider nicht teilnehmen kann. In staatlichen, kommunalen und Landesarchiven gehören diese Quellen zum freiwilligen Sammlungsgut, nicht zur Pflichtaufgabe der Dokumentation staatlichen Handelns. Was nicht archiviert und gesammelt wird, kann für die Forschung nicht genutzt werden, schafft also Lücken in der Geschichtswissenschaft: macht Ausgegrenzte, aus der „Norm“ fallende Minderheiten nur als Opfer oder aus der Perspektive staatlichen Handelns sichtbar und verdrängt sie immer wieder von Neuem aus der Erinnerung und aus dem Bewusstsein als aktiver Teil dieser Gesellschaft.
Abschließend möchte ich einige Gedanken und Impulse für die Podiumsdiskussion zum Spannungsfeld von Wissenschaft und Aktivismus einbringen. Aktivismus bedeutet für uns: Betroffene stoßen als Subjekte der Geschichte Themen und Fragestellungen an, die von der etablierten Geschichtswissenschaft bisher nicht beachtet und gewürdigt wurden; sie sorgen für die Quellensicherung; sie sind selbst Quelle der Forschung; sie begleiten kritisch Forschungsarbeiten und schaffen neue Perspektiven auf schon Erforschtes und verändern damit auch die Erkenntnisse der Wissenschaft.
Wir freuen uns, dass diese Veranstaltung heute Abend hier stattfinden kann und sind gespannt auf die Präsentation und die Diskussion.
(siehe auch die Beiträge: BOOKLET „LESBISCHE* LEBENSWELTEN IM DEUTSCHEN SÜDWESTEN“ ERSCHIENEN und FORSCHUNGSPROJEKT DER UNIVERSITÄTEN HEIDELBERG UND FREIBURG ZU LESBISCHEN LEBENSWELTEN)